Die Chronik von Jerchel Dorf bei Stendal wird 680 Jahre alt: Zumindest wenn es nach Historikern geht
Ein Dorf feiert im nächsten Monat seinen 680. Geburtstag. Aus der Chronik gibt es einiges zu berichten. Und die Bewohner haben mit ihrem Ort noch viel vor.

Jerchel. - Am 2. August 2025 feiern die Menschen aus Jerchel den 680. Geburtstag ihres Dorfes. Das „historische Gedächtnis“ im 102-Seelen-Ort ist die 81-jährige Eva-Maria Herbst. Sie ließ vor der großen Party die Volksstimme in die Chronik voller Geschichte und Geschichten blicken:
Ist das Dorf doch älter als 680 Jahre?
Jerchel soll erst 680 Jahre alt sein? Nein! Mit Sicherheit ist das Dorf älter. Bereits die kleine Kirche wurde um 1200 erbaut. Auch soll es schon im Jahr 987 dort eine Burg gegen die Wenden gegeben haben. Im 20. Jahrhundert wurde vor Ort außerdem Keramik gefunden, die auf eine Siedlung in vorrömischer Zeit schließen lässt.
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Das Problem: Historiker wollen es genau wissen und sie verlassen sich nur darauf, was schwarz auf weiß auf Papier geschrieben steht. Für Jerchel weist das älteste bekannte Dokument auf das Jahr 1345 hin. Markgraf Ludwig von Bayern verlieh dazumal Abgaben aus dem Ort an Henning von Lüderitz.
Im Landbuch der Mark Brandenburg von 1375 wurde das Dorf ebenfalls Jerchel genannt. Es gab eine Mühle, zwölf Bauernhufen (eine Hufe ist die Fläche, die von einer Familie bewirtschaftet werden kann), eine Pfarrhufe und die Familie von Itzenplitz nannte bereits 13 Hufen ihr Eigen.
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Damals hieß die Familie noch von Nitzenplitz. 1493 erhielt ein Erich von Nitzenplitz den Lehnbrief über zwei Freihöfe. Erst im 16. Jahrhundert wurden derer von Nitzenplitz derer von Itzenplitz.
War Jerchel eins ein slawisches Runddorf?
Für den Ortsnamen gibt es zwei Deutungen. Der Historiker Sültmann leitet ihn vom slawischen „grahol“ ab, was für Wicke oder Platterbse steht. Auf slawische Ursprünge weist auch hin, dass es sich um ein Runddorf handelt, denn die ältesten Höfe sind kreisförmig um die Kirche angeordnet.
Es gib aber auch Vermutungen, dass es sich bei Jerchel um die Verkleinerungsform von Jerichow handelt. Die hiesige romanische Backsteinkirche hat nämlich viel Ähnlichkeit mit dem berühmten Kloster auf der anderen Elbseite. Es gibt die Legende, dass das Gotteshaus zu Jerchel von einem Mönch des Jerichower Klosters erbaut worden sei.
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In mittelalterlicher Zeit wurde auch in den Bauernhäusern von Jerchel gesponnen und gewebt. Grundlage war der Flachs, der zu Leinen verarbeitet wurde. Einige der dafür notwendigen Arbeitsgeräte sind noch heute im örtlichen Heimatmuseum zu sehen. Für einige Familien aus dem Dorf wurde die Leinenweberei zum Broterwerb. Dazu gehörten die Pauls, deren Nachkommen noch zu DDR-Zeiten im Dorf lebten.
Dreißigjähriger Krieg, die Ruhr und die Pest erschüttern das Dorf
Vom Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) blieb das Dorf nicht verschont. Zuerst wütete die Ruhr, anschließend starben die Menschen an der Pest. Am 17. Juni 1626 wurde Kersten von Itzenplitz zwischen Grieben und Jerchel von Kroaten erschossen. 1636 plünderten die Kaiserlichen das Dorf, drei Jahre später wurden drei Glocken zerstört. Nach Kriegsende begann der Wiederaufbau von Jerchel.
1718 ging es an die Instandsetzung von Kirche und Turm. Mann ließ sich Zeit. Erst gut 40 Jahre später wurde die jetzige Glocke gegossen. Zwischendurch wurden der Dachreiter aus Fachwerk gebaut, die Fenster erneuert und das Innere mit barocker Ausstattung versehen. Neben der Kirche befindet sich die Gruft derer von Itzenplitz. 1847 soll dort die letzte Beisetzung stattgefunden haben.
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1725 wurde das Rittergut im Erbgang geteilt. Die von Itzenplitz lebten, seit ihnen das Lehen von den Hohenzollern übertragen wurde, überwiegend von der Landwirtschaft und dem Wald. Einige Mitglieder der Familie kamen durch ihre Militärkarriere zu Wohlstand. Fast ein halbes Jahrtausend hatte dieses Geschlecht in Jerchel das Sagen, bis der Besitz Ende des 18. Jahrhunderts an die von Rohtt abgetreten wurde. Rund 40 Jahre später kauften die von Itzenplitz das Gut zurück, sie verkauften erneut und erwarben es 1882 von Rittergutsbesitzer A. Roloff.
In diesem Zusammenhang gibt es die Legende, dass dem Kammerherrn Erich von Itzenplitz dieser Rückkauf durch ein Geldgeschenk, eine sogenannte Morgengabe, von Kaiser Wilhelm ermöglicht wurde. Der Adlige aus Jerchel war Zeremonienmeister des preußischen Monarchen und für die Tischbedienung zuständig.
Die Altmark unter napoleonischer Fremdherrschaft
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte die Altmark zum Königreich Westphalen und stand unter napoleonischer Fremdherrschaft. Diese endete mit den Befreiungskriegen. Auch 13 Männer aus dem Kirchspiel Jerchel zogen 1815 gegen die Franzosen ins Feld. Im gleichen Jahr wird ein Dorfbackofen erwähnt, der von der ganzen Gemeinde genutzt wird.
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1929 war Major Erich von Itzenplitz Besitzer des Gutes. Der Betrieb bewirtschaftete 335 Hektar Acker, 66 Hektar Wiesen und 330 Hektar Forsten. Aufgrund des sandigen Bodens waren die Erträge allerdings mehr als dürftig. Zum Viehbestand gehörten 30 Pferde, 109 Rinder, 200 Schafe und 70 Schweine.
Heute kaum zu glauben: In Jerchel gab es einst eine Schule. Aus dem Jahr 1866 ist bekannt, dass der damalige Lehrer Brömsel 84 Kinder unterrichtete. 1936 wurde auf Initiative des Lehrers Reese ein Haus am Griebener Weg gebaut. Das alte Gebäude entsprach nicht mehr den Anforderungen. Der Klassenraum in der neuen Schule beanspruchte die komplette Westfront. Der Rest war Lehrerwohnung. Reese selber soll hier allerdings nicht mehr unterrichtet haben.
Jerchel wird von Hochwasser heimgesucht
Von größeren Brandkatastrophen scheint das kleine Dorf verschont geblieben zu sein. Im Gegensatz zu Schelldorf und Buch, wo 1844 Feuer wüteten. Die Jercheler spendeten für ihre Nachbarn.
Dagegen setzte das Wasser gleich zweimal dem Ort zu. Im Frühjahr 1845 führte die Elbe Hochwasser, bei Grieben und Schelldorf brachen die Deiche. Jerchel war neben Buch und Bölsdorf am schlimmsten betroffen. 1941 brach der Damm bei Bittkau. Auf den Jercheler Höfen von Schulze, Bräuning, Gäde und Gerecke stand das Wasser kniehoch. Kirche, Gutshaus und Schloss blieben verschont.
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Das noch existierende Gutshaus entstand um 1720. Nach dem Schlossbau um 1870/80 wurde es von der Gutsverwaltung, von den Pächtern beziehungsweise den Nachkommen des Patriarchen genutzt. Ab 1945 war es Flüchtlingsunterkunft, ab 1952 Bürgermeisterei, Erntekindergarten, Jugendclub, öffentliches Bad, Bibliothek und bis 1973 sogar Außenstelle des „Schulkombinates Buch-Jerchel“. Der „Leiter des Schulkombinates“ war der Neulehrer Joseph Landen, in Jerchel wohnhaft.
Das Gutshaus in Jerchel ist für alle da
Heute bemüht sich der Heimat- und Gutshausverein Jerchel um Ortsbürgermeister Lukas-Carsten Köppe um das Haus. Hier klönen die Rentner, tagen die Feuerwehrleute, die Angler, der Ortschaftsrat, der Gutshausverein, hier hat der Ortsbürgermeister sein Büro. Für private Feiern wird der Saal in der mittleren Etage genutzt. Von den fünf Wohnungen im Objekt ist aktuell allerdings nur eine vermietet.
Das Jercheler Schloss war bis Kriegsende Sitz der gräflichen Familie. Im April 1945 zog die Kommandantur der Amerikaner dort ein. Als diese den Ort verließen, schloss sich die Familie des Thilo von Itzenplitz an und ging in den Westen. Förster Franke begleitete den Treck.
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In den anschließenden vier Wochen waren Engländer die Besatzer. Nach Angaben älterer Einwohner trugen sie „Röcke und Bommelmützen“. Es muss sich also um Schotten gehandelt haben. Im Sommer 1945 kamen schließlich die Sowjets, sie plünderten. 1946 wurde der einstige Herrschaftssitz zum Hilfskrankenhaus für Seuchenerkrankungen, ein Jahr später Tbc-Heilstätte unter Leitung des Dr. Gericke. Auch der Bevölkerung aus der Umgebung wurde hier medizinisch geholfen.
1950 wurde aus dem Schloss ein Alten- und Pflegeheim. Im Februar 1973 brach dort ein verheerender Brand aus und die Löscharbeiten verursachten enorme Wasserschäden. Eine Sanierung kam zu DDR-Zeiten nicht infrage. Das Schloss wurde abgerissen.
1949 beginnt der Bau eines Neusiedlergrundstücks in Jerchel
Im Zuge der Bodenreform wurde der einstige Besitz derer von Itzenplitz auf 24 Neusiedler aufgeteilt. 1949 begann Familie Krüger als erste mit dem Bau eines Neusiedlergrundstücks. Im Durchschnitt hatte jeder Bauer sieben Schweine und vier Rinder und bewirtschaftete 15 bis 20 Hektar Land.
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Es gab eine Bäckerei, einen Lebensmittelhändler, eine Schmiede und zwei Gaststätten. 1952 entstand die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die LPG Typ I „Aufbau“, die 1953 in den Typ III überführt wurde. Auf dem Gutsgelände gab es ab dem Ende der 1970-er Jahre ein Ferienlager des VEB Fahlberg-List Magdeburg.
Nach der politischen Wende profitierte Jerchel zwischen 1997 und 2001 von Fördermitteln aus der Dorferneuerung. Der Ort mauserte sich, wurde eines der zehn schönsten Dörfer in Sachsen-Anhalt. „Daran wollen wir wieder anknüpfen. Beginnt der nächste Wettbewerb, werden wir uns bewerben“, so Ortsbürgermeister Lukas-Carsten Köppe selbstbewusst.