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Gasexplosion Die drei Retter von Blankenburg

Nach der Gasexplosion mit einem Todesopfer sitzt der Schock in Blankenburg tief. So haben die Ersthelfer die ersten Minuten danach erlebt.

Von Holger Manigk 18.12.2019, 02:16

Blankenburg l „Ich habe nicht nachgedacht, sondern einfach gehandelt“, sagt André Zinke. Der 39-Jährige ist einer der ersten drei Helfer, die nach der verheerenden Explosion in einem Blankenburger Wohnblock am Freitag in das Haus eilten. Er saß auf der Couch in seiner Wohnung in der Bertolt-Brecht-Straße 1, als er kurz vor 9 Uhr den ohrenbetäubenden Knall hörte.

Wie Romina Preiß und Benjamin Schilling, die im benachbarten Kindergarten „Am Regenstein“ arbeiten, war Zinke sofort klar: Das war kein Böller. „Ich habe zufällig aus dem Fenster unseres Gruppenraumes geschaut, als die gelbe Verkleidung von der Hauswand und dem Balkon wegflog“, berichtet Schilling. Der 24-Jährige stürmte nach draußen, dabei traf er die 18-Jährige, die ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Kita absolviert.

Draußen stießen die beiden auf Zinke – und sahen schließlich eine Frau auf dem Balkon in der ersten Etage der Hausnummer 3. „Hinter ihr schlugen schon Flammen und Rauch aus der Wohnung“, erinnert sich Schilling an seine erste Begegnung mit der vermutlichen Ehefrau des Mannes, der wohl bei der Gasexplosion ums Leben kam. Ohne zu zögern rannte das Trio in den betroffenen Hausaufgang und klingelte bei allen Nachbarn, um sie zu warnen.

„Drinnen hatten die Wände Risse, Wohnungstüren waren von der Druckwelle aus den Angeln gerissen, die Fugen aus den Treppenstufen gebrochen“, schildert Schilling das Ausmaß der Zerstörung. Während Romina Preiß ein älteres Ehepaar, das wohl unter Schock stand, aus der Wohnung gegenüber nach draußen brachte, versuchten die beiden Männer in die Brandwohnung vorzudringen. „Doch da war nur Feuer, wir hatten keine Chance“, berichtet der Blankenburger. Deshalb traten er und Zinke den Rückweg ins Freie an.

Nun versuchten sie, die Rentnerin auf dem Balkon von außen zu retten. „Wir wollten einen Bauzaun als Leiter gegen die Brüstung lehnen – doch leider war das Zaunfeld zu kurz“, erläutert Benjamin Schilling. Deshalb schrien er, Preiß und Zinke zur Frau, die auf dem Geländer im ersten Obergeschoss kauerte: „Sie müssen springen!“ „Romina hat ihre Jacke ausgezogen und über einen Busch unter dem Balkon ausgebreitet, wir hielten die Arme auf, um sie aufzufangen.“ Nach einem kurzen Blick in die Augen ihrer Retter ließ sich die 75-Jährige fallen – und landete einigermaßen sicher.

Als die drei Ersthelfer auf einer Stelle des Rasens, die nicht mit herausgesprengten Glasscherben übersät war, die Frau in stabile Seitenlage brachten, sahen sie, wie schwer sie verwundet war. „Ihre Oberbekleidung hing in Fetzen, ihre Haare glommen, ihr Gesicht war versengt und ihre Füße voller Blut“, erinnert sich Zinke. Die Lippen und Augenbrauen seien verbrannt gewesen, ergänzt Schilling.

Der junge Blankenburger habe sofort seine Hände über ihre gelegt, „damit sie die Verbrennungen nicht sieht“. Er habe der älteren Dame einfach zeigen wollen, „dass jemand für sie da ist“. Die Frau habe kaum atmen können und immer wieder gesagt: „Mein Mann ist da noch drin.“ Kurz darauf sei der erste Rettungswagen eingetroffen. Ein Rettungshubschrauber flog die 75-Jährige wenig später in die Spezialklinik Bergmannstrost nach Halle.

Dort wird noch immer um ihr Leben gerungen. „Ich wünsche mir so sehr, dass sie es schafft“, sagt Benjamin Schilling. Die wenigen Minuten in und vor dem brennenden Wohnhaus im Regenstein bis zum Eintreffen von Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei seien ihm wie eine Ewigkeit erschienen. „Romina, André und ich haben uns quasi blind verstanden, kaum miteinander geredet.“

Inzwischen haben sich Blankenburgs Bürgermeister Heiko Breithaupt (CDU) und Ortswehrleiter Alexander Beck bei allen drei Ersthelfern für ihren mutigen Einsatz bedankt. „Dabei wollte ich gar nicht als Held gefeiert werden, sondern nur Leben retten“, so Schilling. Er habe noch sehr an den traumatischen Erlebnissen vom Freitag zu knabbern, doch Notfallseelsorger würden ihm helfen.

Ebenso braucht André Zinke nun Abstand zu seiner gesperrten Wohnung, aus der er das Nötigste geholt hat, und dem Unglücksort. Nach einer Nacht auf dem Sofa seiner Eltern ganz in der Nähe habe er seinen Lebensmittelpunkt nun nach Hannover verlegt.

„Die Solidarität, die die Blankenburger nach der Tragödie zeigen, ist unglaublich“, sagt der 39-Jährige. Ihn habe beeindruckt, wie besonnen die Mitarbeiter der nahen Kindertagesstätte und der Grundschule „Am Regenstein“ direkt danach reagierten. Was Stadtverwaltung, Wohnungsgesellschaft und Technischer Eigenbetrieb nun leisteten, verdiene Respekt. „Vor allem Bürgermeister Breithaupt hat mit seiner ruhigen Art geholfen, ist immer für uns Betroffene ansprechbar und gefühlt ständig vor Ort“.

Dem schließt sich Heiko Baumgartl an. Er ist einer der Block-Bewohner, die ihre eigenen vier Wände wegen befürchteter Statik-Probleme vorerst nicht mehr betreten können. „Es ist Wahnsinn, welches Hilfsnetzwerk hier in kürzester Zeit organisiert wurde.“ In seiner Übergangsheimat im Berghotel Vogelherd sei er „super aufgenommen“ worden.

Sogar über die Stadtgrenzen gehe das Mitgefühl hinaus, so der Nachwuchstrainer und Schiedsrichter vom Blankenburger FV. „Einheit Wernigerode, sonst ein sportlicher Konkurrent hat uns Hilfe angeboten“, so Baumgartl.