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  5. Im Altmarkdorf Insel herrscht längst Ohnmacht auf allen Seiten

Zunächst waren die "zwei netten älteren Herren" willkommen, dann wollten viele die beiden ehemaligen Sexualstraftäter mit aller Macht schnell loswerden Im Altmarkdorf Insel herrscht längst Ohnmacht auf allen Seiten

17.01.2012, 04:23

Stendal l "Da sind ja neue Nachbarn, zwei nette ältere Herren", so beschreibt Rentnerin Waltraud Klingbeil die Stimmung in Insel, als voriges Jahr im Sommer die beiden Männer in dem kleinen Altmarkdorf bei Stendal ankommen. In dem zuletzt verwaisten Haus nahe der Ortsmitte zieht wieder Leben ein. "Das hat uns gefreut", sagt die 70-Jährige, die seit 40 Jahren dort wohnt.

Das 400-Einwohner-Dorf liegt abgelegen. Zum Teil besteht die Hauptstraße noch aus Pflastersteinen. Konsum, Bäckerei und Gastwirtschaft gibt es schon lange nicht mehr. Man muss nicht durch Insel durchfahren, um zu einem anderen Ziel zu kommen. Wer nach Insel fährt, hat nur diesen Ort zum Ziel.

Für die beiden ehemaligen Sexualstraftäter aus Baden-Württemberg sollte nach 26- beziehungsweise 24-jähriger Haft- und Sicherungsverwahrung der Ort eine Insel der Ruhe werden. Doch die Unruhe kam schnell. Keiner im Ort kannte die Vergangenheit der beiden Männer, die Ende der 80er Jahre wegen der Vergewaltigung einer 15-jährigen Schülerin beziehungsweise einer 40-jährigen Taxifahrerin hinter Gittern lebten.

Der Freiburger Tierarzt Dr. Edgar Cramm hatte die heute 64 und 54 Jahre alten Männer kennengelernt und wollte ihnen in dem ererbten Haus eine Perspektive in der wieder erlangten Freiheit schaffen, nachdem der Europäische Gerichtshof die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung ausgesetzt hatte.

Ein "Kinderschänder" lebe jetzt im Ort, heißt es in Insel schnell. Eine Verwechselung, wie sich kurze Zeit später herausstellt. Doch das Gerücht war in der Welt. Eine Bürgerversammlung wird anberaumt. Fast das halbe Dorf ist dort Mitte August aufgebracht anwesend - und geht am Ende des Abends befriedet nach Hause, nachdem signalisiert wurde, dass die Männer den Ort schnell wieder verlassen würden.

Ein Missverständnis. Kurze Zeit später erklären beide, in Insel ihre neue Zukunft aufbauen zu wollen. Mehr als 700 Unterschriften für einen schnellen Wegzug sammeln die Inseler binnen weniger Tage. Angst und Ungewissheit breiten sich jetzt bei vielen Inselern aus. Der Ortsbürgermeister schreibt mehrere Briefe an den Ministerpräsidenten und Mitglieder der Landesregierung. "Bis heute habe ich darauf keine Antworten erhalten", kritisiert er.

Dreimal in der Woche demonstrieren an die 100 Inseler fortan gegen die beiden Männer im Ort. Als sich Ende September drei Dutzend Mitglieder rechter Kameradschaften dem Protest anschließen, werden sie geduldet. Innenminister Stahlknecht und Superintendent Michael Kleemann bewegen beide Männer zu einer Erklärung, dass sie den Ort doch verlassen wollen. Die Demos werden eingestellt.

Die Suche gestaltet sich jedoch schwierig, Kleemann holt sich Absagen bei mehr als zwei Dutzend kirchlicher Einrichtungen. Zahlreichen Inselern dauert die Suche viel zu lange. Sie fühlen sich als "Versuchskaninchen", fühlen sich und ihre Sorgen von den Verantwortlichen nicht ernst genommen. Stendals Oberbürgermeister Klaus Schmotz (CDU) wirbt mit viel Hinterzimmer-Diplomatie für Ruhe und kann neue Demos zunächst verhindern.

Doch am ersten Januar-Sonnabend waren bei strömendem Regen nach Zählung der Polizei 37 Rechtsradikale unter den 110 Demonstranten. Sie skandieren gemeinsam "Raus aus Insel" und halten NPD-Luftballons hoch.

Während in der vorigen Woche Vertreter von Stadt, Landkreis und Polizei die Organisatoren des Protests dazu bewegen, eine deutliche Trennlinie zur rechten Szene zu setzen, zeichnet sich eine andere Entwicklung ab: Während der 54-Jährige den Ort möglichst schnell verlassen und einer Arbeit nachgehen will, möchte der schwerkranke 64-Jährige dort seinen Frieden finden.

Waltraud Klingbeil und ihre Mitstreiterinnen hoffen, dass es dafür noch nicht zu spät ist und ein neuer Weg möglich ist. Seite 5