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Freundschaft Magdeburger Blutsbrüder

Es ist eine außergewöhnliche Geschichte, die Marcel March und Paul Hünecke aus Magdeburg und Irxleben zu „Blutsbrüdern“ werden ließ.

Von Bernd Kaufholz 18.10.2017, 01:01

Magdeburg l 2002. Paul Hünecke und Marcel March teilen sich seit sechs Jahren ein Doppelzimmer im Sportinternat. Da sind sie 19 und schon beste Freunde. Paul nennt es „zusammengeschweißt“. Beide sind Leichtathleten und haben das Zeug, mal ganz oben auf dem Sieger-Treppchen zu stehen. Marcel mit dem Diskus und im Mehrkampf, Paul auf der Tartanbahn und im Weitsprung.

Marcel, der Stämmige mit den ansehnlichen „Muckis“, lehnt sich im Foyer seines Fitnessstudios in Magdeburg-Lemsdorf zurück: „Ich sollte in die Sportfördergruppe aufgenommen werden und musste dafür die üblichen medizinischen Tests durchlaufen. Nach vier Wochen kam vom Doktor das Stoppzeichen.“ Die Ärzte hatten auffällige Werte festgestellt. Eiweiß im Urin. Was bei gesunden Menschen normalerweise nicht vorkommt, weil Protein normalerweise durch die Nieren gefiltert wird.

„Große Sorgen habe ich mir allerdings damals noch nicht gemacht. Auch, weil man mir gesagt hat, dass das bei Leistungssportlern nicht ungewöhnlich ist.“ An Dialyse habe er nicht mal im Entferntesten gedacht“, so der Magdeburger.

Der junge Mann studiert auf Lehramt, im Hauptfach Sport und Philosophie. Doch so richtig gesund fühlt er sich nicht. „2005 bin ich ansatzlos aus den Pantoffeln gekippt.“ Was folgt ist eine Gewebeprobe und die Diagnose, dass beide Nieren geschädigt sind. Es wird eine sogenannte IgA-Nephropathie, eine chronische Nierenentzündung, festgestellt. „Bei 70 Prozent aller Patienten kann diese Krankheit medikamentös aufgehalten oder zumindest stark verlangsamt werden. Pech – ich gehörte zu den 30 Prozent.“

2011 wird Marcel als Notfall in die Klinik eingeliefert. Nierenversagen. „Nach drei Tagen sind die ,Filter‘ dann wieder angesprungen“, sagt der 34-Jährige. „Aber ab 2012 ging es rapide abwärts. Eine Transplantation war die letzte Rettung.“ Seine Mutter steht ganz oben auf der Spender-Liste. Alles ist für den Eingriff vorbereitet. Doch kurz vor dem Termin ergeben sich Komplikationen. Aus der Nierenverpflanzung wird nichts. Ehefrau, Bruder und Vater warten Gewehr bei Fuß, um Marcel eine rettende Niere zu spenden. Aber aus den unterschiedlichsten Gründen kommen auch sie nicht in Frage. Der Blick richtet sich nun auf den Freundeskreis. Speziell auf Kumpel Paul.

„Ich weiß es noch ganz genau. Ich saß in der Küche. Da klingelte das Telefon. Marcel hat mir erzählt, dass er auf der Intensivstation liegt und sich sein Körper selbst vergiftet.“ Ein Wettlauf mit der Zeit. Paul habe gefragt: „Was kann ich tun?“. Die klare Antwort: „Ich brauche eine Niere.“

Marcel unterbricht seinen Freund: „Und du hast sofort zugesagt.“

Es habe gar kein langes Überlegen gegeben, bestätigt Paul. „Und auch meine Ehefrau hat mein Vorhaben sofort unterstützt“, erinnert sich der durchtrainierte Mann mit dem Dreitagebart. Er habe die spontane Zusage auch nie bereut. Doch wieder scheint es so, als habe das Schicksal etwas dagegen, dass Marcel geholfen werden kann. Paul: „Im Rahmen der Untersuchungen wurde bei mir ein chronischer Leberschaden diagnostiziert. Doch glücklicherweise stellte sich nach weiteren Tests heraus, dass diese Unregelmäßigkeit keinen Einfluss auf eine Transplantation hat.“

Marcel öffnet seine rote Trainingsjacke mit dem Bundesadler auf der linken Seite und hebt das T-Shirt ein Stück. Auf der Brust trägt er ein Tattoo. Das Motiv: Ein Olympionike mit einer Fackel als Symbol des ewigen Lebens in der Hand. Auf der Startnummer steht „10.11.15“ („das Datum meiner Wiedergeburt“), auf der Hose „Paul“. Das hat er sich ein Jahr nachdem ihm sein Freund eine seiner Nieren überlassen hatte, stechen lassen – als sichtbares Dankeschön.

An jenem 10. November wird Paul als erster in einen Operationssaal der Berliner Charité gerollt. Nach erfolgreicher Nierenentnahme wird drei Stunden später Marcel in den OP-Saal gebracht. Paul: „Als nachmittags die Tür im Aufwachraum aufging und Marcel ins Zimmer kam, hat er uns singend mit einem Titel seiner Lieblingsband ,Depeche Mode‘ begrüßt. Wir haben alle geweint.“

Alles schien perfekt zu sein. Schien … Paul weiter: „24 Stunden nach der OP bin ich vom Klagen meines Freundes aufgewacht. Er hatte große Schmerzen. Ich habe sofort die Klingel gedrückt und die Ärzte wurden aktiv.“ Es lag eine Abstoßungsreaktion vor, die bei Organverpflanzungen nie ganz auszuschließen ist.

Marcel schildert leise seine Gefühle von der Intensivstation: „Es war furchtbar. Ich habe nur gedacht: Hoffentlich ist das alles bald vorbei. Ich habe nie verstanden, dass sich manche Menschen aufgeben, weil sie es vor Schmerzen nicht mehr aushalten. Von dieser Stunde an verstehe ich sie.“

Doch der junge Mann springt dem Sensenmann erneut von der Schippe. Nach ein paar Tagen wird er wieder ins Zimmer zu seinem Kumpel gebracht.

Paul, der die Entnahme einer Niere körperlich super verkraftete, hat nur eine große Sorge: „Ich hatte Angst vor den vorausgesagten Schwächeanfällen, dass ich nicht mehr in die Gänge komme. Bei der gemeinsamen Rehabilitation an der Müritz, wo es wieder wie im Internat war – wir Zwei zusammen im Doppelzimmer – sind wir beim Reha-Sport auf einen Flyer gestoßen. Darin wurde über die Behindertenmeisterschaften berichtet. Wir waren uns schnell einig: Das wäre sicherlich auch etwas für uns.“

Kaum zurück, beginnen die beiden Freunde mit extremen Ehrgeiz auf ihr Ziel hinzuarbeiten. Und beide Familien stehen voll hinter ihnen. Für Marcel, den Inhaber einer Fitnessstudio-Kette in Sachsen-Anhalt, gab es auch dabei nur „einhundert Prozent plus X“. Der promovierte Nierenspender Paul, der bei VW in Wolfsburg arbeitet, denkt genauso.

Der erste Prüfstein sind die Deutschen Meisterschaften 2016 in Bremen. Beide springen, laufen werfen und stoßen die Konkurrenz vom obersten Treppchen. Paul holt Gold im Weitsprung und im 100-Meter-Sprint, Marcel mit der Kugel, dem 200-Gramm-Ball und im Hochsprung.

Die erste Hürde war genommen. Aber die Lust auf sportliche Erfolge und die damit verbundene Selbstbestätigung, dass selbst Transplantierte zu Spitzenleistungen fähig sind, noch lange nicht gestillt. „Die Mission ,Malaga‘ mit Start bei den World Transplant Games (Weltspiele der Transplantierten) konnte beginnen“, so der Irxleber Paul. Und das Training wird noch einen Zahn schärfer. Beruf, Familie und die Vorbereitung auf den internationalen Wettkampf müssen unter einen Hut gebracht werden.

Paul trainiert bis zu fünfmal die Woche, pendelt zwischen Wolfsburg, Magdeburg und Halle, schwitzt – wenn der Tag nicht genügend Stunden hat – selbst nachts in den Laufhallen. Hardy Gnewuch, der erfahrene Leichtathletik-Trainer aus Halle, hat ihm Trainingspläne maßgeschneidert und begleitet ihn erfolgreich während der gesamten Vorbereitungszeit. Marcel hat oft den deutschen Olympiateilnehmer im Diskuswerfen, Martin Wierig, an seiner Seite. Einmal mit dem deutschen Team bei einer internationalen Meisterschaft dabei zu sein, das ist der große Traum des Duos. Unterstützt werden sie vom Sportclub Magdeburg.

Im Juni 2017 startet der Flieger nach Malaga. „Schon, als wir in das Outfit der Nationalmannschaft reinschlüpften, kriegten wir eine Gänsehaut. Dann der Einmarsch zur Eröffnungsfeier in die Stierkampfarena unter der schwarz-rot-goldenen Flagge“, erzählt Marcel. Und wie es der Zufall so will, war die Einmarschhymne für Deutschland Pauls Hochzeitslied – ein Song aus dem Film „Gladiator“. Und wieder liefen den beiden Sportlern aus Sachsen-Anhalt die Tränen über die Wangen.

Neun Tage geht es um Höchstleistungen. Paul steht zweimal ganz oben auf dem Siegerpodest: Gold im 100-Meter-Lauf, Gold im Weitsprung. Die 6,34 Meter in der Sandgrube sind gleichzeitig Weltrekord. Die 34 Meter mit dem Diskus bedeuten für den Magdeburger Marcel Silber. Im Hochsprung erkämpft er sich zudem Bronze. Mit der Kugel reicht es zum vierten Platz – knapp am Edelmetall vorbeigeschrammt.

Für Paul hat sich mit der Teilnahme an den Weltspielen ein Lebenstraum erfüllt: „Ich habe meine sportlichen Ziele erreicht.“ Marcel hingegen will weitermachen. „2018 finden die Europameisterschaften der Transplantierten in Cagliari auf Sardinien und 2019 die WM im englischen NewcastleGateshead statt. Da möchte ich meine Medaillen von Malaga vergolden.“

Beide sagen wie aus einem Mund, dass sie seit der Transplantation „bewusster leben.“ Paul kommt sogar ohne unterstützende Medikamente aus. Marcel, der auf eine Handvoll Pillen und Kapseln – seine Tagesration – zeigt, meint: „Es ist ein Geschenk.“

Und an einen Zufall, dass sein Sohn Mads Paul am 4. Januar 2017 geboren wurde, glaubt der Magdeburger nicht. Es ist genau der Tag, an dem auch sein Blutsbruder Paul Geburtstag feiert.