Mehr antisemitische Vorfälle in Sachsen-Anhalt Ansprechpartner für jüdisches Leben: „Panoptikum der Scheußlichkeiten“
Rias-Meldestelle erfasst mehr als 200 Taten in Sachsen-Anhalt. Die Vorfälle reichen von Diebstählen und Beschädigungen von Stolpersteinen bis zu einer Todesdrohung.

Magdeburg - Entfernte Stolpersteine, „1933“-Rufe in einem Stadion in Halle, Hakenkreuz-Schmierereien: Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Sachsen-Anhalt ist im ersten Jahr nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel erneut gestiegen. 202 Vorkommnisse erfasste die Meldestelle für antisemitische Vorfälle Rias demnach in ihrem am Mittwoch vorgelegten Jahresbericht 2024. Das waren 13 Prozent mehr als im ersten vollen Berichtsjahr ein Jahr zuvor (178 Fälle). Unter den Vorkommnissen – oberhalb und unterhalb der Grenze zur Straftat – waren dabei auch drei Angriffe, 22 Sachbeschädigungen und 16 Bedrohungen. Die meisten Vorfälle gab es in Halle (97), gefolgt von Magdeburg (27) sowie dem Saale- (17), Burgenland- (15) und dem Harzkreis (11).
Diebstähle und Beschädigungen von Stolpersteinen etwa in Halle
Besonders auffällig seien im Berichtsjahr Diebstähle sowie massive Beschädigungen von Stolpersteinen, hieß es. So seien in Halle in zeitlicher Nähe zum Gedenken des fünften Jahrestags des rassistischen Anschlags auf die Synagoge fünf Stolpersteine gestohlen worden. Ein drastischer Fall von Bedrohung ist die Mail an eine Amtsperson: Darin wurde diese – laut Bericht – mit dem Tode bedroht. Zudem seien Israelis in der Mail als „Judenschweine, Kindermörder und Frauenmörder“ beschimpft worden.
Vorstand von Trägerverein spricht von „tektonischen Verschiebungen“
Inessa Myslitska, Vorsitzende des Landesverbands Jüdischer Gemeinden, ergänzte: Nach dem Gedenken zum Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November in Magdeburg hätten Unbekannte auch am Denkmal der einstigen Synagoge in der Landeshauptstadt Blumen und Kränze zertrampelt. An der Wohnung eines Rabbiners sei ein religiöses Symbol angezündet worden. „Der Bericht ist erschütternd für uns“, ergänzte Myslitska. Den Gläubigen in ihrer Gemeinde empfehle man inzwischen nach dem Gottesdienst die Kippa abzusetzen und jüdischen Schmuck zu verstecken. „Wir tun das, weil wir Angst haben“, sagte sie.
Die neuen Zahlen von Rias Sachsen-Anhalt zeigen: Antisemitische Vorfälle geschehen im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen – und direkt vor der eigenen Haustür.
Marina Chernivsky, Vorstand des Vereins Ofek, Träger der Rias-Meldestelle
„Die neuen Zahlen von Rias Sachsen-Anhalt zeigen: Antisemitische Vorfälle geschehen im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen – und direkt vor der eigenen Haustür“, erklärte auch Marina Chernivsky, Vorstand des Vereins Ofek der Träger der Rias-Stelle ist. Chernivsky sprach mit Blick auf die Dynamik der Vorfälle von „tektonischen Verschiebungen“. Das gesellschaftliche Klima habe sich verändert.
„Antiisraelischer Aktivismus“ in Halle und Magdeburg
Relativ neu ist neben dem bekannten Phänomen der Erinnerungsabwehr des Holocausts laut Rias der „antiisraelische Aktivismus“ im Land. Vor allem in Halle und Magdeburg hätten sich seit dem 7. Oktober 2023 Gruppen etabliert und radikalisiert, die in der Studentenschaft versuchten, politische Gegner einzuschüchtern. Dokumentiert ist etwa ein Aufkleber auf dem Campus der Uni Halle mit der Aufschrift „Keine Pride der Apartheid“ – eine Anspielung auf den Vorwurf Israel sei mit Blick auf die Behandlung der Palästinenser ein Apartheidsstaat.
Ansprechpartner für jüdisches Leben: „Panoptikum der Scheußlichkeiten“
Wolfgang Schneiß, Ansprechpartner für jüdisches Leben im Land, sprach mit Blick auf den Bericht von einem „Panoptikum der Scheußlichkeiten“. Es seien Vorfälle, die gezielt eingesetzt würden, um Angst unter Juden zu verbreiten. Juden in Deutschland würden zudem vermehrt für das Regierungshandeln in Israel haftbar gemacht.
Innenministerium hatte zuletzt 116 antisemitische Straftaten im Land gemeldet
Die Rias nimmt Meldungen zu antisemitischen Vorfällen im Land entgegen und berät Betroffene. Sie wird vom Verein Ofek getragen und vom Land finanziell unterstützt.
Vor einem Monat hatte das Innenministerium mitgeteilt, dass im vergangenen Jahr 116 antisemitische Straftaten in Sachsen-Anhalt begangen wurden, das waren etwas weniger als 2023 (130).