Im Rat des Bezirkes Magdeburg wimmelte es nur so vor MfS-Maulwürfen - und alle beschnüffelten sich gegenseitig. Stasi: Bespitzelte Spitzen-Spitzel
Magdeburg l Zum ersten Mal in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte wird der Einfluss der Stasi auf einen Rat des Bezirkes erforscht. Das Bürgerkomitee Sachsen-Anhalt stellt am Donnerstag den ersten Band der Studie "Geheimdienstliche Aktivitäten von Mitarbeitern des Rates des Bezirkes Magdeburg - Beginn einer Aufklärung" von Ulrich Mielke vor.
Der Rat des Bezirkes Magdeburg, der die Regierung für den Nordteil des heutigen Sachsen-Anhalts bildete, war durchsetzt mit einer Vielzahl von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die sich zum Teil gegenseitig bespitzelten. Das geht aus der Studie hervor. "Es ist kaum glaubhaft, wie viele IM und auch wie viele Führungs-IM es im Rat des Bezirkes gegeben hat", sagt der Magdeburger Autor Ulrich Mielke, der seit September 2012 nach mehreren Akteneinsichtnahmen in der Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde das Thema bearbeitet. "Ende 1989 waren es nach bisherigen Erkenntnissen mindestens 50 IM und drei Offiziere im besonderen Einsatz." Das Forschungsthema sei wie "ein Hefekuchen, der gerade aufgeht", so BStU-Außenstellenleiter Jörg Stoye. Mielke rechnet deshalb damit, dass weitere Bände folgen werden.
Der 1. Teil der Studie befasst sich mit den fünf Vorsitzenden, die der Rat des Bezirkes seit 1952 hatte. Das waren Josef Hegen (1952/1953), Paul Hentschel (1953-1959), Bruno Kiesler (1957/1958 amtierend für Hentschel), Kurt Ranke (1960-1985, gest. 1999) und Siegfried Grünwald (1985-1990).
"Die Dokumentation belegt, wie weit die DDR von einem Rechtsstaat entfernt war." - Holger Stahlknecht, Innenminister
Umfangreiche Dokumente liegen vor allem über die beiden letzten Ratsvorsitzenden vor. Während Ranke "wegen seiner SPD-Traditionen" für eine hauptamtliche MfS-Tätigkeit nicht in Frage kam und als Ratschef offizielle Kontakte hatte, war Grünwald zwischen 1958 und 1985 mehr als 14 Jahre inoffiziell als IM "Falke" und IM "Hans Richter" für das MfS tätig. Dafür erhielt er zwischen 1978 und 1985 Geldzuwendungen und Geschenke in Höhe von über 7000 Mark und wurde mit der "Medaille für treue Dienste" durch das MfS ausgezeichnet. Ziel der Verpflichtung: Grünwald sollte seine "bedeutsame Schlüsselposition" vor allem nutzen, um im Stasi-Sinne Kollegen zu überwachen, zu beeinflussen und zu kontrollieren - ohne, dass hinter seinem Handeln das MfS erkannt wird.
Als Grünwald 1985 vom 1. Stellvertreter zum Vorsitzenden des Rates wechselte, versprach er seinem Führungsoffizier bei einem der üblichen Treffen in einer konspirativen Wohnung, dass er selbst als Ratsvorsitzender alle Aufgaben, die ihm das MfS übertragen werde, "auch weiterhin unter Wahrung der Geheimhaltung vollinhaltlich durchsetzen" werde. Dieser Aktenvermerk vom 24. Juni 1985 hat Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht, der das Geleitwort zu der Studie geschrieben hat, besonders betroffen gemacht.
"Für das MfS war es offensichtlich wichtig zu wissen", schreibt er, "dass der seit vielen Jahren für die Stasi verpflichtete inoffizielle Mitarbeiter auch als Behördenleiter - diese Funktion hatte er schließlich zwischen September 1985 und Juni 1990 inne - ihr verlängerter Arm war." Es seien solche Dokumente, die den Wert der Studie ausmachten, so Stahlknecht. "Die Dokumentation belegt zudem in hohem Maße, wie weit die DDR von einem demokratischen Rechtsstaat entfernt war."
In der Studie, die Mielke in Zusammenarbeit mit dem Bürgerkomitee erarbeitet hat, gibt es für diese Einschätzung eine Vielzahl von Beispielen. Mehrere IM kritisieren den Leitungsstil von Ranke als "patriarchalisch" sowie "einschüchternd und Angst verbreitend". "In seiner cholerischen Art duldet er keine, seinem Standpunkt zuwiderlaufende Meinung", hieß es schon 1971 in einer Einschätzung durch die Stasi, die im Laufe der Jahre mehrfach bestätigt wurde.
Neben der Kritik an seiner Leitungstätigkeit gab es wiederholt Hinweise auf eine - gelinde gesagt - nicht den Vorschriften entsprechende Verwendung staatlicher Gelder. Das sei auch damals schon kriminell und strafbar gewesen, so Mielke, heute würde eine solche Handlungsweise zum Sturz ganzer Regierungen führen. So berichtet die Stasi über einen "mit viel Pomp und Luxus betriebenen Schwarzbau". In diesem Gästehaus des Rates des Bezirkes durften nur Ratsmitglieder und deren Gäste verkehren, die dort Getränke und Speisen zu Vorzugspreisen erhielten. Ranke selbst standen mehrere Objekte zur Verfügung, die er fast ausschließlich allein nutzte, was für den IM "Skorpion" eine "ausgemachte Schweinerei" war. Dazu gehörten ein Appartement und eine Etage eines Neuanbaus in Schierke, mehrere Bungalows sowie Jagdhäuser in Ilsenburg und Wendgräben.
"Die Stasi hatte ein Eigenleben, das nicht mehr beherrschbar war." - Ulrich Mielke, Historiker
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Information von IM "Fiedler" vom 11. September 1979. Er schreibt: "Am 17. 08. 1979 wurde aus Wernigerode - vermutlich Feudalmuseum - ein Bild mit einem Jagdmotiv im Goldrahmen, Wert ca. 50 TM (80 TM lt. Gen. Hptm. Scholz) aus dem 19. Jahrhundert stammend - vermutlich abtransportiert zur Abteilung L+N beim Rat des Bezirkes. Am 20.08.1979 wurde das Gemälde nach Wendgräben weitertransportiert zum Jagdhaus des Gen. Ranke." Bis heute ist dieses Gemälde verschwunden.
Die Spitzeltätigkeit von Grünwald zeigt die geheimdienstlichen Aktivitäten in vielen Facetten. Neben der Anschwärzung von Bürgern und der Auskunft über Entscheidungen im Rat des Bezirkes hat er dafür gesorgt, dass die Behörde Ausweise für hauptamtliche MfS-Leute ausgestellt hat, mit denen sie sich als Mitarbeiter des Staatsapparates ausgeben konnten, dass Stasi-Angehörige im Rat angestellt wurden oder Ratsmitarbeiter ins MfS wechseln konnten.
Für Spitzel, die auswärts für das MfS im Einsatz waren, hat er Legenden ausgearbeitet und dafür gesorgt, dass sie von ihrer Tätigkeit im Rat unauffällig freigestellt wurden. "Dass Grünwald selbst vom IM ,Rolf Berger\' bespitzelt wurde, zeigt, dass die Stasi ein Eigenleben hatte, das nicht mehr beherrschbar war", sagt Mielke.
Für den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Stasi-Verstrickungen im Gesundheitswesen und jetzt im Rat des Bezirkes durch Ulrich Mielke "ein großer Gewinn". "Hut ab vor dem, was bisher geleistet wurde", sagte Jahn. Es sei wichtig, dass alle gesellschaftlichen Bereiche erforscht werden - nicht nur die Verbrechen in Gefängnissen, sondern der Alltag, den alle Bürger erlebt haben, müsse ins Blickfeld gerückt werden. Dadurch werde deutlich, wie die Diktatur funktioniert hat, wer die wirkliche Macht hatte.
Der erste Teil der Studie über "Geheimdienstliche Aktivitäten von Mitarbeitern des Rates des Bezirkes Magdeburg" wird am kommenden Donnerstag, 5. September, 18 Uhr in der Stasi-Gedenkstätte am Magdeburger Moritzplatz von Ulrich Mielke vorgestellt. Der Eintritt ist frei.