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  5. Ungelöster Mord an Anja Lengnick in Aschersleben: Wer erstach 16-Jährige vor 24 Jahren nach der Disco

Ungelöste Verbrechen Video: 16-Jährige aus Aschersleben auf dem Disko-Heimweg ermordet - Täter seit 24 Jahren auf der Flucht

Im September 1998 war die damals 16-jährige Anja Lengnick auf dem Heimweg von der Disco „Manege“ in Aschersleben. 300 Meter vor ihrer Wohnung wird die Jugendliche erstochen. Bis heute weiß die Polizei nicht, wer der Täter war.

Von Bernd Kaufholz und Matthias Fricke Aktualisiert: 19.05.2022, 15:28
Ungelöster Mordfall: Das Foto des Tatorts und seiner Umgebung in Aschersleben. Rechts hinten die Baumgruppe neben dem Viergeschosser, an der der Täter Anja Lengnick überfiel. Rechts daneben der Hauseingang in der Judith-Reßnik-Straße, vor dem das Opfer verblutete. Vorn links der Parkplatz vor „Burger King“. Dort stand zur Tatzeit ein roter Opel „Corsa“.
Ungelöster Mordfall: Das Foto des Tatorts und seiner Umgebung in Aschersleben. Rechts hinten die Baumgruppe neben dem Viergeschosser, an der der Täter Anja Lengnick überfiel. Rechts daneben der Hauseingang in der Judith-Reßnik-Straße, vor dem das Opfer verblutete. Vorn links der Parkplatz vor „Burger King“. Dort stand zur Tatzeit ein roter Opel „Corsa“. Foto: Polizei

Aschersleben - Freitag, der 4. September 1998. Es ist gegen 1.30 Uhr, als sich Anja Lengnick in der Aschersleber Großdiskothek „Manege“ verabschiedet. Wann genau sie das Gebäude verlässt und ob sie allein geht, ist bis heute völlig ungeklärt.

 
Ungelöste Verbrechen: Der Fall Anja Lengnick. Video: Kamera: Linda van Bui/Schnitt: Samantha Günther

So richtig hat der 16-Jährigen die Disko-Nacht, zu der sie gegen 21 Uhr aufgebrochen war, nicht gefallen. Ihr Ex-Freund hat sie genervt. Später werden Zeugen sogar von einem Streit zwischen den beiden sprechen.

Eines der letzten Fotos des Mordopfers Anja Lengnick. 1998 wurde sie in Aschersleben erstochen.
Eines der letzten Fotos des Mordopfers Anja Lengnick. 1998 wurde sie in Aschersleben erstochen.
Foto: Privat

Ungelöster Mord an Anja Lengnick in Aschersleben: Zeugen sehen Anja in der Tatnacht

Drei Wochen zuvor hatte Anja mit ihrem Freund Schluss gemacht. „Der ist nicht der Richtige“, hatte sie einer Freundin gegenüber ihren Entschluss begründet. Das blonde Mädchen will kein lockeres Verhältnis, sie will etwas Festes. Doch ihr Freund hatte daran kein Interesse. „Der geht mit dir doch nur, weil er nicht als einer dastehen will, der keine Freundin abkriegt“, hatte ihr ein Kumpel des jungen Mannes gesteckt. Anjas Ultimatum: Ganz oder gar nicht!

Die 16-Jährige macht sich auf den Heimweg zum sogenannten Astronautenviertel. Sie geht wahrscheinlich über die Heinrich-, Bahnhofsstraße, Herrenbreite, den Johannisplatz und die Güstener Straße.

Zwischen ein und zwei Uhr soll sie zu Hause sein, hat sie mit den Eltern ausgemacht. „Schaffe ich nicht mehr ganz“, denkt sie. Denn sie kennt den Weg genau und weiß, dass sie bis zum Plattenbaublock in der Judith-Reßnik-Straße zu Fuß eine knappe halbe Stunde braucht.

Ungelöster Mordfall in Aschersleben: Anja Lengnick war allein auf dem Heimweg von der Dico

Trotz der späten Stunde fahren noch einige Autos an ihr vorbei. Zumeist sind es Jugendliche, die einen Abstecher von der Disko machen, um bei McDonald’s oder Burger King schnell etwas zu essen.

Anja wird von Fußgängern gesehen. Sie fällt in ihrem schicken schwarzen Top und der weißen Hose im Licht der Straßenlaternen auf. Um 2.20 Uhr wird das Mädchen das letzte Mal gesehen. Da ist sie nur noch etwa 300 Meter von ihrer Wohnung entfernt.

Anja gehen auf dem Heimweg allerlei Sachen durch den Kopf. Sie denkt an das berufsvorbereitende Jahr, das sie demnächst beginnen will, und an ihren Traumberuf: Sozialarbeiterin.

„Prima von Vati, dass er mir ein Auto kaufen will, wenn ich 18 bin“, freut sie sich. „Auch, dass er den Gebrauchten als seinen Zweitwagen anmelden will, damit ich nicht so viel Steuern bezahlen muss, ist super.“

Anja Lengnick wurde im September 1998 in Aschersleben erstochen - der Täter ist bis heute nicht gefunden

Was wenige Minuten später passiert, dafür gibt es keine Zeugen. Die 16-Jährige geht auf dem Plattenweg an der Baumgruppe vorüber, die unmittelbar an den Viergeschosser in der Judith-Reßnik-Straße grenzt. Plötzlich spürt sie jemanden hinter sich. Sie will sich umdrehen, doch da ist schon der brennende Schmerz im Rücken, der ihr die Luft und beinahe die Besinnung raubt.

Am Morgen nachdem Anja Lengnick erstochen worden war, suchen Ermittler im Umfeld des Tatorts in Aschersleben nach Spuren.
Am Morgen nachdem Anja Lengnick erstochen worden war, suchen Ermittler im Umfeld des Tatorts in Aschersleben nach Spuren.
Foto: Frank Gehrmann/MZ

„Nach Hause! Schnell!“, durchjagt es sie in Panik. Im selben Moment stößt der Täter ein zweites Mal mit dem 19 Zentimeter langen Messer zu. Er zerfetzt eine Niere. Der Stich ist tödlich.

Mord an Anja Lengnick in Aschersleben: Ihr Ex-Freund war für die Ermittler kein Unbekannter

Das Mädchen schleppt sich mit schier unmenschlicher Anstrengung bis zum Hauseingang. Sie schafft es noch, ihr Schlüsselbund aus der Tasche zu nehmen. An der Briefschlitzseite, links neben der verschlossenen Eingangstür, versucht sie, sich hochzuziehen. Doch sie schafft es nicht. Der starke Blutverlust hat sie bereits zu sehr geschwächt.

Eine Stunde später steckt eine Zustellerin Zeitungen in die Briefkästen. Sie sieht das Mädchen in einer großen Blutlache regungslos vor der Tür liegen. Ob aus Angst oder weil sie glaubt, dass dort eine Betrunkene liegt, sei dahingestellt. Fakt ist, sie kümmert sich nicht um Anja. Allerdings informiert sie wenigstens die Polizei.

Dort läuft um 3.42 Uhr die Meldung ein: hilflose Person. Fünf Minuten später ist der Notarzt vor Ort. Er kann nur noch den Tod der 16-Jährigen feststellen.

Sonnabendmorgen, 7 Uhr. Anjas Vater kocht sich einen Kaffee. Dabei sieht er aus dem Küchenfenster im 4. Stock des Plattenbaus. „Ich habe mich gewundert, wieso da unten so viele Leute stehen“, erzählt er wenige Tage nach dem Mord der Volksstimme. „Aber durch das Dach über dem Hauseingang konnte ich nicht mehr erkennen.“

Ungelöster Mordfall: Anja Lengnick schaffte es noch bis zur Haustür

Kurz darauf klingelt die Polizei an der Tür der Lengnicks. „Ist Ihre Tochter zu Hause?“, fragt ein Beamter. Der Vater blickt ins Zimmer, das seine Große mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester teilt. Das Bett ist leer. „Vor der Haustür habe ich mein Kind dann liegen sehen“, sagt der Vater und seine Worte sind kaum zu verstehen.

Auch zwei Tage nach dem Mord zeigen Blutspritzer auf dem Plattenweg noch immer den Weg, den sich die 16-Jährige schleppte. Auf den großen Fleck an der Haustür wurde inzwischen Sand gestreut. Darauf haben Freunde und Bekannte Blumengebinde gelegt und Kerzen gestellt. An einem Plüschteddy hängt ein Zettel: „Wir vermissen dich.“ Die Freundinnen Jana, Anika und Sabrina schrieben auf ein anderes Blatt: „Dein Leben hat gerade erst angefangen, und schon ist es vorbei.“

Im vierten Stock sagt Anjas Vater mit tonloser Stimme: „Ich kann das alles nicht verstehen. Anja hatten doch alle gern.“

Mord an Anja Lengnick in Aschersleben: Polizei nimmt Ex-Freund ins Visier

Dann erzählt er, dass die Tochter sich sehr für alles Soziale interessiert habe. „Sie hatte alles für ihre Zukunft geplant“, so der damals 43-Jährige. „Nun ist alles kaputt.“

Dann übermannt den Mitarbeiter der Abfallwirtschaft wieder der Schmerz. Er presst ein Handtuch vor die Augen.

Das 2. Fachkommissariat aus Halberstadt beginnt seine Ermittlungen vom Polizeirevier Aschersleben aus. „Zuerst haben wir uns um die rund 1050 Diskothek-Besucher gekümmert“, erinnert sich später Mordermittler Frank Götze. „Dabei sind wir natürlich auch auf Anjas Ex-Freund gestoßen.“ Er war kein Unbekannter für die Polizei.

Doch die Aussagen von Jugendlichen, die Anjas Ex-Freund kennen, widersprechen sich. Die einen meinen, dass er in der Mord-Nacht für etwa eine halbe Stunde die Diskothek verlassen hat – einige sagen sogar, dass er eine Jacke anhatte, als er wiederkam – andere behaupten hingegen, der 18-Jährige habe die Diskothek zu keinem Zeitpunkt verlassen.

Ermittlungen im Mordfall Anja Lengnick: Saß der Täter in einem roten Opel Corsa?

Bei den Untersuchungen stößt die 16 Mann starke Ermittlungsgruppe auf eine Mitarbeiterin von „Burger King“. Das Schnellrestaurant befindet sich auf der anderen Straßenseite, nur wenige Meter vom Tatort entfernt. Nach ein Uhr schloss das Schnelllokal. Anschließend reinigten Angestellte das Burger-Restaurant.

Die Zeugin fühlte sich schon den gesamten Abend über nicht besonders. Deshalb fuhr sie eher als die anderen nach Hause. Als sie vom Parkplatz herunter wollte, sah sie gegenüber einen roten „Corsa“. Sie sagt aus, dass zwei Personen darin saßen. Aber aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse habe sie nur erkannt, dass es zwei Männer waren, gibt sie zu Protokoll.

Ermittlungen im Mordfall Anja Lengnick: Messer des Ex-Freundes bleibt verschwunden

„„Natürlich war das Auto für uns ein weiteres Mosaiksteinchen, das auf Anjas Ex-Freund deutete“, sagte Frank Götze. „Denn der 18-Jährige fuhr solch ein Auto.“

Sonntagnacht werden der „Ex“ und dessen Freund, der Anja ebenfalls kannte, vorläufig festgenommen. „Neben den Aussagen der Disko-Besucher und der Frau vom Schnellrestaurant gab es auch Ungereimtheiten in den Antworten der beiden“, so der Chefermittler.

„Hinzu kommt, dass die Freundinnen, mit denen er vor Anja zusammen gewesen war, erzählten, dass sich der 18-Jährige nur schwer damit abfinden kann, wenn ein Mädchen ihm einen Korb gibt.“

Was bis heute fehlt, ist die Tatwaffe – eine Art Hirschfänger. Es ist allerdings sicher, dass der Ex-Freund solch ein Messer gehabt hat. Aber auch das ist nicht auffindbar.

Ermittlungen im Mordfall Anja Lengnick: Polizei hat keinen hinreichenden Tatverdacht gegen Ex-Freund des Opfers

„Die Rekonstruktion der Tat mit dem sogenannten Weg-Zeit-Diagramm hat ergeben, dass es dem Ex-Freund möglich gewesen wäre, mit seinem Bekannten zum ,Burger-King’ zu fahren, nachdem Anja die Diskothek verlassen hatte“, sagte der FK2-Chef. „Mit dem Auto braucht man nachts weniger als vier Minuten bis zum Parkplatz.“

Dort hätten die 18-Jährigen warten können, bis sie Anja Lengnick sehen. „Ist der Täter in diesem Moment ausgestiegen und die 100 Meter über die Straße gegangen, wäre er zur selben Zeit an der Baumgruppe angekommen wie das Opfer.“

Nach dem bis heute ungeklärten Mord legten Freunde Anjas an der Haustür in Aschersleben, vor der die 16-Jährige starb, Blumen und kleine Geschenke nieder.
Nach dem bis heute ungeklärten Mord legten Freunde Anjas an der Haustür in Aschersleben, vor der die 16-Jährige starb, Blumen und kleine Geschenke nieder.
Frank Gehrmann

Und dann gab es da noch die Sache mit den Holunderbeeren. Eine dieser schwarzen Früchte wurde unter den beigefarbenen Velourslederschuhen des Verdächtigen gefunden. Solche Beeren wachsen auch vor dem Haus der Lengnicks. In seiner ersten Aussage hatte der Ex zugegeben, eben diese Schuhe am fraglichen Abend getragen zu haben. Später sollen es Adidas-Turnschuhe gewesen sein.

Mord an Anja Lengnick in Aschersleben: Hohe Belohnung für Hinweise auf den Täter

Montagabend werden die beiden Männer aus dem Altkreis Aschersleben-Staßfurt wieder auf freien Fuß gesetzt. Von der Staatsanwaltschaft Magdeburg hieß es damals: „Ein hinreichender Tatverdacht hat sich nicht bestätigt.“

Ende September 1998 wird der ungeklärte Mordfall in der MDR-Sendung „Kripo live“ rekonstruiert. Doch auch dieser neue Ermittlungsvorstoß führt nicht zum Täter.

5000 Euro Belohnung für Hinweise auf den Täter sind ausgesetzt.