1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Der lange Schatten von 2014

Wahlfälschung Der lange Schatten von 2014

Die Wahlfälschung in Stendal von 2014 ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Der Streit innerhalb der CDU überschattet auch die Wahl 2019.

Von Bernd-Volker Brahms 02.05.2019, 01:01

Stendal l Auch diesmal wieder hat die Stendaler CDU die Nationalhymne abgespielt, als sie im März im großen Saal des Stendaler Hotels „Schwarzer Adler“ ihre Liste für die Kreistagswahl aufgestellt hat. Von Einigkeit und Recht und Freiheit ist die Partei in der östlichen Altmark allerdings derzeit meilenweit entfernt. Zu viel ist seit der Kommunalwahl vor fünf Jahren passiert. Einer ihrer ehemaligen Mitstreiter sitzt im Gefängnis, andere CDU-Mitglieder treten bei der Kommunalwahl gegen ihre Partei an und von der höchsten Parteiebene wird mit Ausschlussverfahren gedroht. Eine Schlammschlacht ist in vollem Gange.

Aber auch das politische Gesamtklima hat sich im äußersten Norden Sachsen-Anhalts verändert, man kann auch sagen vergiftet. Bester Ausdruck ist ein Wahlplakat der neuen Gruppierung der Freien Stadträte Stendal. Es ist eine bunte Gruppe, wo ein Unternehmer genauso dabei ist wie ein Ortsbürgermeister und ein Finanzbeamter. Sie sind sauer darüber, dass der unaufgearbeitete Wahlskandal, der auch der CDU als Ganzes angehaftet wird, immer noch die Stadtpolitik lähmt. Mit einem Wahlplakat, das die Grenzen der Satire auslotet, wird darauf verwiesen, dass ein Ex-Stadtrat der CDU immer noch im Gefängnis sitzt und bei der Briefwahl vor fünf Jahren so einiges schiefgegangen ist.

Sehr lange hatte man bei der CDU in Stendal geglaubt, man könne die Sache mit der Wahlfälschung von 2014 einfach aussitzen, so wie es ihr ehemaliger Bundesvorsitzender Helmut Kohl einstmals vorgemacht hatte, als er bei der Parteispendenaffäre beim besten Willen keine Namen nennen wollte. Kohl wurde zum Synonym fürs Aussitzen.

In Stendal ist es ein anderer, der sitzt, nämlich Holger Gebhardt. Der 43-Jährige verbüßt in Halle/Saale seine zweieinhalbjährige Haftstrafe, die er dafür bekommen hat, dass er bei der Briefwahl vor fünf Jahren Hunderte Stimmen gefälscht hatte. Es ist ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte, dass jemand für Wahlfälschung ins Gefängnis musste.

Die Christdemokraten vor Ort versuchten die Angelegenheit so klein zu halten, wie es ging – eben auf ihre Weise auszusitzen. Offizielle Sprachregelung war immer, dass Holger Gebhardt als Einzeltäter den ganzen Schlamassel verursacht hatte. Daran hat sich bis heute beim Führungspersonal nichts geändert, auch wenn selbst stramme Parteimitglieder hinter vorgehaltener Hand ihre Zweifel äußern. Vielleicht hatte man gedacht, dass tatsächlich irgendwann Gras über die Sache gewachsen sein wird, spätestens als das Stendaler Landgericht im März 2017 mit dem Urteil gegen den überführten Wahlfälscher die Sache in strafrechtlicher Hinsicht erst einmal abgeschlossen hatte. Von innerparteilicher Aufarbeitung oder einem Neuanfang konnte nicht die Rede sein.

Traditionell war die Altmark ein gutes Pflaster für die CDU. Auch 2014 schnitt die Partei im Landkreis Stendal sehr gut ab und konnte sogar noch zulegen. 40,7 Prozent der Stimmen zum Stadtrat und 41,8 Prozent der Stimmen für den Kreistag waren auf die CDU entfallen. Die Christdemokraten feierten am Abend des Wahltages in der Geschäftsstelle ihr tolles Ergebnis. Der Kater sollte allerdings schon bald folgen.

Wie sich in den Wochen danach durch Recherchen der Volksstimme herausstellte, war das Wahlergebnis frisiert worden. Der damals 40-jährige CDU-Stadtrat Holger Gebhardt hatte nahezu 1000 Stimmen gefälscht. Er selbst war mit 837 Stimmen als viertbester CDU-Vertreter in den Stadtrat gewählt worden. Bei der Kreistagswahl – wo er nicht antrat – hatte Gebhardt mit den gefälschten Stimmen vor allem den CDU-Landtagsabgeordneten Hardy Peter Güssau und den damaligen Kreischef der Stendaler CDU, Wolfgang Kühnel, ganz offensichtlich begünstigt. Beide hatten ein weit überdurchschnittliches Briefwahlergebnis.

Ob Güssau und Kühnel in die Wahlmanipulation verwickelt waren oder zumindest Kenntnis davon hatten, konnte trotz eines Gerichtsverfahrens und eines Untersuchungsausschusses im Landtag bisher nicht geklärt werden.

Gegen den heute 56-jährigen Hardy Peter Güssau wurde indes nie juristisch ermittelt, da er nicht zu den wissentlichen oder unwissentlichen Helfern von Gebhardt gezählt hatte, die für diesen Briefwahlunterlagen im Wahlbüro des Stendaler Rathauses abgeholt hatten.

Allerdings holte Güssau die Wahlaffäre dennoch zwei Jahre später ein, als er im Frühjahr 2016 zum Landtagspräsidenten gewählt wurde und das höchste Amt des Landes Sachsen-Anhalt nach nur wenigen Monaten im August 2016 wieder abgeben musste. Der Druck auf ihn war zu groß geworden, da er selbst auch unter Parteikameraden nicht plausibel erklären konnte, dass er mit der Wahlmanipulation seines damaligen engen Vertrauten nichts zu tun hatte. Bis heute wird darüber gerätselt, wie Güssau seine eigenen Stimmen abgegeben haben will.

Wahlfälscher Gebhardt behauptet, dass er Güssaus Stimmen im Auftrag gefälscht habe. Die Unterlagen bei der Staatsanwaltschaft stützen dies, da dort ein entsprechender Wahlschein mit einer gefälschten Güssau-Unterschrift vorliegt. Güssau selbst beharrt darauf, selbst gewählt und alle Unterlagen unterschrieben zu haben.

An dieser Stelle muss betont werden, dass es um keinen strafrelevanten Vorwurf gegen Güssau geht, sondern um eine Kuriosität bei der Wahlfälschung: nämlich die, dass Güssau möglicherweise seine Stimmen von Gebhardt hat fälschen lassen.

Anders sieht es dagegen bei dem ehemaligen CDU-Kreischef Wolfgang Kühnel aus. Gegen diesen wird seit Ende 2018 wieder juristisch ermittelt, nachdem sein Strafverfahren zunächst vorläufig eingestellt worden war. Der heute 65-Jährige hat bis heute sowohl bei der Polizei geschwiegen als auch als Zeuge beim Prozess gegen Gebhardt und im Landtagsuntersuchungsausschuss die Aussage verweigert.

Kühnel war nachweislich einer der Zuträger Gebhardts, der Briefwahlunterlagen aus dem Rathaus geholt hat. Laut Gebhardt hat Kühnel ihm einen Ordner mit Unterschriften von Nichtwählern als Grundlage der Fälschungen gegeben.

In den vergangenen fünf Jahren kamen scheibchenweise immer neue Details zu dem Wahlskandal ans Tageslicht, so dass selbst hartgesottene CDU-Anhänger ins Grübeln kamen. Einer von ihnen war der Osterburger Bürgermeister Nico Schulz, der mittlerweile kurz vor dem Rausschmiss aus der Partei steht, obwohl er bei der Kommunalwahl 2014 das Zugpferd der Partei war. Bei der Kreistagswahl erhielt der ehemalige Landtagsabgeordnete 4941 Stimmen – kein CDU-Kandidat war erfolgreicher.

Am 26. Mai wird Nico Schulz nun mit einer ganz eigenen Mannschaft, nämlich der von „Pro Altmark“, ins Rennen um die Kreistagsmandate gehen. Der 45-Jährige wollte 2017 die Stendaler CDU reformieren und trat mit dem Anspruch zur Wahl als Kreisvorsitzender an, mit voller Transparenz den Wahlskandal hinter der Partei lassen zu wollen. Bei der Wahl fiel er durch und so wurde bei der CDU weiter gewurschtelt.

Als Nico Schulz Ende des vergangenen Jahres zusammen mit dem Seehäuser Bürgermeister Rüdiger Kloth seine eigenen Kreistagsliste ankündigte, da wurde von der Partei scharf zurückgeschossen. Nico Schulz habe jahrelang sein Mitgliedsbeiträge nicht vollständig entrichtet, hieß es.

Im März verstieg sich der CDU-Landeschef Holger Stahlknecht sogar dazu, Schulz private Verfehlungen anzukreiden. Diese habe man „weggeatmet“, sagte Stahlknecht. Er unterstütze den Ausschluss von Schulz und Kloth aus der Partei. Im Zusammenhang von „Pro Altmark“ sprach er despektierlich von „Schulz und Konsorten“.

Schulz selbst fürchtet einen Ausschluss indes nicht. Dann könne ein unabhängiges Parteigericht darüber befinden, so Schulz, ob er den größeren Schaden für die Partei angerichtet habe oder diejenigen, die jahrelang eine Aufklärung verhindert hätten. „Auf das Urteil bin ich gespannt“, sagt Schulz.

„Ich kann nicht mehr glauben, was uns das Führungspersonal in der CDU erzählt hat“, sagt Rüdiger Kloth, der ebenso wie Nico Schulz seit mehr als 20 Jahren Mitglied in der CDU ist. Sie wollen nicht mit denjenigen auf einem Wahlzettel stehen, die verantwortlich sind für den Skandal. Immerhin stehen auf der Liste von „Pro Altmark“ 22 Kandidaten. Für den ehemaligen Tangermünder Bürgermeister Rudolf Opitz, der ebenfalls dabei ist, ist Wahlfälschung nur „die Spitze des Eisbergs“. Wahlbetrug fange schon damit an, den Leuten nicht die Wahrheit zu sagen. Er habe dies in seiner Zeit bei der CDU zu oft erlebt. „Die Leute halten es aus, wenn man ihnen die Wahrheit sagt“, sagt Opitz.

CDU-Kreischef Chris Schulenburg rechnet damit, dass die neue Konkurrenz die CDU am Ende Sitze im Kreistag kosten wird, so hat er es jedenfalls beim Nominierungstreffen der CDU-Kandidaten im März gemutmaßt. Immerhin hat die CDU wie in den zurückliegenden Jahren für die Kreistagswahl eine komplette Liste aufgestellt. 57 Kandidaten treten an. Keine andere Partei schaffte es, das komplette Kontingent auszuschöpfen.

Eines dürfte gewiss sein, nach der Wahl im Mai werden sowohl der Stadtrat in Stendal als auch der Kreistag weitaus breitgefächerter aufgestellt sein. Neben mehreren Wählergruppen und auch Einzelbewerbern ist es auch die AfD, die mit einem großen Aufgebot an Kandidaten Wählerstimmen holen möchte. Auch sie verweist gern auf den nicht aufgearbeiteten Wahlskandal und treibt im Untersuchungsausschuss des Landtags die Sache federführend mit voran.

In Stendal dürfte Wahlleiter Philipp Krüger drei Kreuze machen, wenn die Wahl im Mai vorüber ist. Der 34-jährige Verwaltungsmitarbeiter steht mächtig unter Druck, da 2014 eine Rathauspanne die Wahlfälschung erst in der ganzen Dimension möglich gemacht hatte und erneute Fehler eine Riesenblamage wären. Seinerzeit war von der Verwaltung missachtet worden, dass lediglich vier Briefwahlunterlagen in Vertretung abgeholt werden durften. Es wurden stattdessen massenhaft Unterlagen herausgegeben. Wahlleitervorgänger Axel Kleefeldt (CDU) bekam die Höchststrafe – und wurde abgewählt.

Damit gar nichts mehr anbrennt, wurden für rund 20 000 Euro außerdem neue Wahlkabinen für alle 36 Wahllokale angeschafft. Wenn Wahlfälscher Holger Gebhardt die 50 000 Euro bezahlt, die die Stadt von ihm als Schadenersatz für zwei Wiederholgswahlen haben möchte, dann kommt das Geld sogar wieder rein. Allerdings hat Gebhardt in dieser Woche noch ein ganz anderes Problem. Er muss sich am Freitag am Landgericht für die Fälschung von Arztrechnungen verantworten ...