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Zweiter Weltkrieg In Magdeburg untergetaucht

Eine jüdische Frau widerstand 1943 der NS-Verfolgung. Schutz fand sie auch in einer Magdeburger Familie.

Von Manfred Zander 05.11.2017, 16:00

Magdeburg l An einem Tag im März 1943 verließ Marie Jalowicz mit einem kleinen Koffer in der Hand die Empfangshalle des Magdeburger Hauptbahnhofs. Hinter ihr lag eine mehrstündige Fahrt im Bummelzug aus Berlin. Mancher der Wartenden, der Abreisenden und Ankommenden mag ihr nachgeschaut haben. Die schlanke Figur, das runde, hübsche Gesicht unter dem gefärbten blonden Haarschopf zogen die Blicke auf sich.

Die 20-Jährige musste Aufmerksamkeit eigentlich meiden. Die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes befand sich auf der Flucht. Ab 1940 war sie Zwangsarbeiterin bei Siemens. Im Jahr darauf starb ihr Vater. Nun war sie auf sich allein gestellt. 1942 entkam sie in ihrer Berliner Wohnung nur knapp der Verhaftung durch zwei Gestapobeamte. Im Unterrock lief sie auf die Straße. Ein Arbeiter legte ihr eine Windjacke um die Schultern und begleitete sie zu jüdischen Bekannten: Die ersten Stunden ihrer Flucht. Sie sollte drei Jahre dauern. Ihr Überlebenswille half, dem NS-Regime und seiner Verfolgung zu widerstehen.

Später, sehr viel später, berichtete die in der DDR lebende Altphilologin und Historikerin Marie Simon (1922 bis 1998) ihrem Sohn über diese Jahre. 77 Tonbänder hielten die Gespräche fest. Der Historiker Hermann Simon hat sie zu einem spannenden Erlebnisbericht zusammengefasst. 2014 ist er unter dem Titel „Untergetaucht“ erschienen. Zu den Tagen der jüdischen Kultur und Geschichte las Hermann Simon im Magdeburger Forum Gestaltung aus dem Buch seiner Mutter.

Der Historiker Götz Aly nannte den Bericht „ein sensationelles Buch“. Im Magazin Die Zeit schrieb er: „Wie konnte das mitten in Deutschland geschehen? Wer über den Mord an den Juden nachdenkt, stößt auf diese Frage, die bislang niemand enträtselt hat. Einerseits belegen die Dokumente ein hohes Maß an Antisemitismus, ,Führer‘-Ergebenheit, Gleichgültigkeit und die Begierde, sich an den Hinterlassenschaften der Entrechteten gütlich zu tun, andererseits finden sich Tausende Zeugnisse von bezahlter und unbezahlter Hilfe, schlichter Menschlichkeit, bürgerlicher und proletarischer Normalität. Wer sich in die menschlichen Zwischenwelten hineindenken, sich also den Realitäten annähern will, lese den Bericht, den Marie Jalowicz Simon (1922 bis 1998) über ihr Leben im Berliner Untergrund hinterlassen hat.“

Während ihrer Flucht fand Marie Jalowicz in 19 verschiedenen Wohnungen Unterschlupf. Eine der ersten Adressen war die eines eingeschworenen Parteigängers Hitlers, des gehbehinderten Karl Galecki. Eines Tages verkündete er: „Die Juden müsste man alle umbringen.“ Bei anderer Gelegenheit gestand er ihr gesenkten Kopfes, dass er zu Sexuellem nicht mehr imstande sei. Ein für Marie beruhigendes Geständnis. Dennoch wechselte sie bei nächster Gelegenheit die Unterkunft.

Anfang 1943 wohnte sie bei der Artistin Camilla Fiochi in Zeuthen bei Berlin. Dort lernte sie Trude Neuke kennen. „Trude Neuke war in erster Ehe mit Rudolf Hubbe, einem kommunistischen Funktionär in Magdeburg verheiratet gewesen“, schrieb sie später in ihrem Buch. „Dieser war im April 1932 von SA-Leuten erschlagen worden. Um mit ihren zwei kleinen Kindern nicht allein dazustehen, hatte sie wenig später einen anderen kommunistischen Genossen namens Julius Neuke geheiratet.“

Beide wurden zu ihren wichtigsten Fluchthelfern. „Ab sofort bis zum Sieg der Roten Armee übernehme ich die Verantwortung für dein Leben und für deine Rettung vor unseren gemeinsamen Feinden“, hatte Trude ihr bei ihrer ersten Begegnung versprochen. Und tatsächlich: Als die Unterkunft in Zeuthen zu unsicher geworden war, suchte Trude Ersatz. Lange vergeblich. Schließlich fuhr sie nach Magdeburg, um ihre Mutter Anna Aernecke und ihre drei Schwestern zu fragen.

Marie Jalowicz erfuhr davon, als sie Julius Neuke, genannt Jule, besuchte. „Er lotste mich in die Küche ... Es herrschte eine Atmosphäre, in der ich mich auf Anhieb wohlfühlte“, erzählte sie in ihren Erinnerungen. „Es war bei diesem ersten Kennenlernen so, wie es mit Julius Neuke auch weiterhin blieb: Er war einer der ganz wenigen Männer, die mich ohne die geringste sexuelle Anspielung einfach gern hatten.“ An der Scheibe des Küchenschrankes entdeckte sie eine Postkarte aus Magdeburg: „Mit falschen Satzzeichen und willkürlicher Groß- und Kleinschreibung hatte Trude ihr geschrieben: „Elle, die Könnte sagt nein. Erna Gernebereit sechs Wochen.“

Daraufhin fuhr Marie im Bummelzug nach Magdeburg. Und machte eine für ihre Zukunft wichtige Erfahrung: „Der Platz vor dem Magdeburger Bahnhof sah genauso aus, wie Trude ihn mir beschrieben hatte. Ich wandte mich an eine steinalte Frau, um sie nach der richtigen Straßenbahn zu fragen. Statt zu antworten, starrte sie mich misstrauisch an: „Wo kommen Sie denn her? Sie sind doch nicht von hier!“, stellte sie fest. ... Diese Begegnung verhalf mir zu einer wichtigen Erkenntnis: In Berlin war ich nie aufgefallen. Ich war Berlinerin in meiner Sprache, meinem Aussehen und Benehmen. Da konnte ich mich stolz und frei unter alle anderen Bewohner der Stadt mischen. Kaum aber war ich in Magdeburg angekommen, fiel ich als Fremde auf. Und daraus zog ich einen wichtigen Schluss für die Zukunft: Wenn ich untergetaucht leben wollte, würde das nur in Berlin möglich sein.“

In den nächsten Wochen aber würde sie sich erst einmal unter den noch etwa 330.000 Magdeburgern unsichtbar machen. Viele von ihnen arbeiteten in einem der großen Industrieunternehmen, bei Krupp-Gruson, Junkers, Polte, Wolf oder Schäffer & Budenberg. Die Stadt war ein Schwergewicht der deutschen Rüstungswirtschaft. Magdeburger Unternehmen lieferten Munition, Geschütze und Panzer an die Front, Treibstoff und Flugmotoren – darunter das erste kriegstaugliche Strahltriebwerk – an die Luftwaffe, Motoren, Messgeräte und Feinmechanik an die Kriegsmarine. Das machte die Stadt früh und immer wieder zum Ziel alliierter Bombenangriffe. Magdeburg war bereits gezeichnet, auch wenn der große Vernichtungsschlag noch bevorstand.

Ein Magdeburger mittleren Alters hatte ihr schließlich Auskunft gegeben. Nun saß Marie Jalowicz in einer von Station zu Station sich leerenden Straßenbahn. An der Endhaltestelle wurde sie von Trude Neukes Schwester Erna Hecker „mit ausgebreiteten Armen und einem herzlichen Lächeln“ willkommen geheißen. Sie wohnte mit ihrem fünfjährigen Sohn im Südosten der Stadt in einer Neubauwohnung. Ihr Mann war an der Front.

In Magdeburg feierte Marie Jalowicz am 4. April 1943 den 21. Geburtstag. Durch einen Brief von Johanna Koch, mit deren Namen und Pass sie unterwegs war, erfuhr sie verschlüsselt von der Deportation jüdischer Zwangsarbeiter und von der Verhaftung ihres Onkels Karl.

Auch in Magdeburg waren kurz vor Maries Ankunft nochmals jüdische Bürger nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden, 46 am 26. Februar und vier am 2. März. Es waren der drittletzte und vorletzte Transport Magdeburger Juden in Vernichtungslager. Damit war die mehr als tausendjährige Geschichte eine der ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands erloschen.

Tagsüber musste Marie in Erna Heckers Wohnung bleiben. Nur abends ging sie manchmal untergehakt mit der Nachbarin Krause ums Karree. Ausflüge in die Stadt blieben selten. Einmal fuhr sie mit Erna nach Rothensee. Es wehte eiskalter Wind. „Dennoch genoss ich es, endlich wieder einmal draußen zu sein“, erinnerte sie sich. „,Ach Erna, ich habe den Winter überlebt, den ersten Winter meines Untertauchens‘, sagte ich froh.“

Nach etwa sechs Wochen kehrte Marie Jalowicz nach Berlin zurück.

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 - 1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main ISBN 9783100367211, 22,99 Euro.