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Bildung und Erziehung Immer mehr Kinder in Magdeburg zeigen ein herausforderndes Verhalten

Die Frühförderstelle in Magdeburg wird 30 Jahre alt. Volksstimme-Redakteurin Christina Bendigs sprach mit Leiterin Birgit Garlipp über die Arbeit in der Einrichtung, über herausfordernde Kinder und darüber, was sie brauchen.

Von Christina Bendigs Aktualisiert: 29.06.2022, 09:52
Spielerisch wird in der Frühförderstelle mit Kindern gearbeitet, um sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Spielerisch wird in der Frühförderstelle mit Kindern gearbeitet, um sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Symbolfoto: picture-alliance/dpa

Magdeburg - Die Frühförderstelle in Magdeburg wird 30 Jahre alt. Volksstimme-Redakteurin Christina Bendigs sprach mit Leiterin Birgit Garlipp über die Arbeit in der Einrichtung

Volksstimme: Frau Garlipp, sie leiten die Frühförderstelle in der Lumumbastraße. Sie besteht seit 30 Jahren. Wie kam es zur Gründung der Einrichtung?

Birgit Garlipp: Die Frühförderstelle wurde 1992 gegründet. Der ehemalige Jugendamtsleiter Rudi Förster, der Körperbehindertenpädagoge Reinhard Gubener und die Sonderpädagogin Gabi Fritze hatten sich unabhängig voneinander Gedanken dazu gemacht, im gemeinsamen Austausch sind sie übereingekommen, dass Magdeburg eine Frühförderstelle braucht, und haben sie in Trägerschaft des Jugendamtes gegründet.

Wer wurde dort aufgenommen?

Zu Beginn wurden nur Kinder mit einer Behinderung aufgenommen und diese Kinder und deren Familie gefördert und begleitet. Im Laufe der Zeit hat sich das geändert. Heute ist es so, dass Kinder mit einer Behinderung die kleinere Gruppe bilden. Die größere Gruppe sind die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen.

Wie viele Kinder kommen in die Einrichtung?

Anfang der 1990er Jahre waren es noch nicht so viele, heute betreuen wir 150 Kinder – vom Säugling bis zum Vorschulkind. Die Mädchen und Jungen sind ein bis drei Jahre bei uns. Sie kommen häufig ab dem vierten Lebensjahr, weil den Eltern, Kinderärzten oder Erziehern dann auffällt, dass sich die Kinder nicht so entwickeln wie ihre Altersgenossen.

Wenn sich Eltern Sorgen machen, können sie bei uns anrufen.

Birgit Garlipp

Wie kommt der Kontakt zur Frühförderstelle zustande?

Die Frühförderstelle ist ein niedrigschwelliges Angebot. Wenn sich Eltern Sorgen machen, können sie bei uns anrufen und erst mal einen Termin machen. Wir schauen uns die Kinder an, und wenn es eine Diskrepanz zwischen Alter und Entwicklungsstand gibt, können wir entscheiden, welche Förderung für das Kind infrage kommt.

Ist das Angebot für die Familien kostenfrei?

Die Frühförderung ist gesetzlich verankert und deshalb kostenfrei.

Birgit Garlipp leitet die Frühförderstelle für auffällige Kinder in Magdeburg in der Lumumbastraße.
Birgit Garlipp leitet die Frühförderstelle für auffällige Kinder in Magdeburg in der Lumumbastraße.
Foto: Garlipp

In welchen Bereichen sind denn die Kinder entwicklungsverzögert?

Wir schauen auf die kognitive Entwicklung des Kindes, ob es den Anforderungen eines gleichaltrigen Kindes gewachsen ist. Es fällt im Spielen auf und in der Sprache, das ist ein großer Bereich, in der Wahrnehmung, also dass sie sich selbst nicht so gut wahrnehmen können, in der Fein- und Grobmotorik, um Handlungen im Spielen umzusetzen, dass sie Spielanleitungen nicht altersgerecht verstehen und dann auch nicht umsetzen können.

Und wie wird in der Frühförderung den Kindern geholfen?

Die klassische Frühförderung besteht aus heilpädagogischen Maßnahmen, das bedeutet, mit den Kindern wird spielend gelernt. Dadurch können wir die Ausmaße der Beeinträchtigung eingrenzen, mildern oder im günstigsten Fall beseitigen. Manche Kinder brauchen wegen sprachlicher oder motorischer Störungen zusätzlich eine medizinische-therapeutische Hilfe, zum Beispiel eine Logopädie oder Ergotherapie. Das Gute ist, wir sind interdisziplinär aufgestellt und können all das an einem Ort bieten. Wir haben Heilpädagogen, Logopäden, Ergotherapeuten und je nach Hilfebedarf können wir flexibel mit dem Kind arbeiten.

Damals gab es einen immensen Ansturm auf Frühförderleistungen.

Birgit Garlipp

Wie hat sich der Bedarf in den vergangenen Jahren geändert?

1992 gab es nur die eine Frühförderstelle des Jugendamtes, vor 15 Jahren kamen noch zwei dazu in der Stadt. Damals war die Tendenz absolut steigend gewesen und es gab einen immensen Ansturm auf Frühförderleistungen. Aktuell ist der Anstieg immer noch zu verzeichnen, aber nicht mehr so rasant wie vor 15 Jahren. Ich glaube, dass im Moment Frühförderkinder gut versorgt sind. Dennoch nehmen wir mehr Anmeldungen entgegen als Plätze zur Verfügung stehen.

Wie haben sich die Kinder und Familien in den vergangenen 15 Jahren verändert?

Die Familien haben sich sehr stark verändert. Früher hatten wir meist verheiratete Eltern, heute sind sie häufiger zusammenlebend oder auch alleinerziehend, außerdem hat der Anteil der Familien mit Migrationshintergrund zugenommen. 50 Prozent der Kinder, die wir betreuen, haben einen Migrationshintergrund, diese Entwicklung haben wir so nicht kommen sehen.

Liegt das an der Sprachbarriere oder an traumatischen Erfahrungen?

Also, die Sprache allein ist kein Grund für eine Frühförderung. Wenn Kinder gut entwickelt sind, können sie die Sprache in der Kita gut lernen. Zumeist steckt aber mehr dahinter: Traumata, die wir nicht auflösen können, schreckliche Erlebnisse, die die Familien hinter sich haben und die sich belastend auf die Familien auswirken.

Im Moment macht uns Sorgen, dass die Zahl der Kinder mit besonderen und herausfordernden Verhaltensweisen verstärkt zunimmt.

Birgit Garlipp

Sind Kinder heute anders als früher oder sind die Bedarfe heute anders als vor 15 Jahren?

Im Moment macht uns Sorgen, dass die Zahl der Kinder mit besonderen und herausfordernden Verhaltensweisen verstärkt zunimmt.

Ist das eine Frage der Erziehung, dass die Kinder dieses Verhalten zeigen, oder woran liegt das?

Das ist eine schwere Frage. Um das zu ergründen, müsste man es wissenschaftlich untersuchen. Einen einzelnen Grund gibt es nicht, es ist sicher ein Zusammenspiel von mehreren Ursachen. Aber wir müssen uns auf den Weg machen, Hilfen für die Kinder, die Kitas und die Familien zu finden, wie wir damit umgehen.

Welche Lösungen oder Ansätze streben Sie diesbezüglich an?

Grundsätzlich müsste etwas in den Kitas passieren. Der Personalschlüssel reicht angesichts der Herausforderungen, die diese Kinder bieten, nicht aus. Das Personal müsste besser auf die besonderen Anforderungen vorbereitet sein. Die Stadt hat schon durch den Einsatz von Kita-Sozialarbeitern versucht, die Kitas zu stärken. Das scheint aber nicht zu reichen. Eine weitere Unterstützung sind natürlich die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und die Jugendpsychiatrie. Aber auch die haben nur begrenzte Kapazitäten. Was noch auffällt bei den Kindern ist, dass jedes dritte Kind in der Frühförderung Probleme mit der Sprache hat. Unsere Logopäden sind ausgebucht, weil so viele Kinder nicht altersgerecht in der Sprachentwicklung sind.

Magdeburger Frühförderstelle für Kinder: Erst Entwicklungsgespräch, dann Diagnostik

Wenn jetzt jemand Sorgen hat, dass sein Kind nicht gut entwickelt ist, wie läuft das dann ab?

Einfach anrufen, wir laden dann als Erstes zu einem Entwicklungsgespräch ein und schauen, wo die Problemlage ist. Wenn eine Frühförderung infrage kommt, dann machen wir einen Termin zu einer umfassenden Entwicklungsdiagnostik.

Und wie erfolgreich sind Sie in Ihrer Arbeit?

Wir haben in den vergangenen 15 Jahren 2200 Kinder in der Frühförderung gehabt und 1500 Entwicklungsdiagnostiken erstellt, wenn die Kinder nicht schon von einer anderen Stelle eine mitgebracht haben. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Frühförderung Positives für die Entwicklung der Kinder bringt. Dass wir immer erreichen, dass ein Entwicklungsrückstand ganz aufgehoben wird, kann man so nicht sagen. Aber da wir die Kinder ganzheitlich mit allen Sinnen und Möglichkeiten fördern, werden sie in ihrer Entwicklung gestärkt.

Sie haben gesagt, dass die Kinder bis zum Schuleintritt bei ihnen bleiben können, wie geht es dann für die Kinder weiter?

Je früher die Kinder kommen, umso besser ist es. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir in der Präventionsarbeit Kitas und Ärzte sensibilisieren, dass sie die Kinder im Auge haben und darauf achten, ob dort ein Entwicklungsrückstand zu sehen ist. Dass die Förderung mit dem Schuleintritt abbricht, bedauern wir sehr. Danach können die Kinder nur durch Rezepte vom Kinderarzt in eine Ergotherapie oder Logopädie überwiesen werden. Oder sie müssten im Schulsystem entsprechend weiter gefördert werden.