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Kolumne Warum kein autofreies Magdeburg?

Wann kommt die autofreie Innenstadt in Magdeburg und was sagt der Stadtrat dazu?

Von Nico Esche 12.05.2020, 23:01

Magdeburg l Wenn es um das geliebte Auto geht, verfallen viele in Schnappatmung, der Beißreflex setzt blitzschnell ein. Ob nun neue Beschränkungen, die von “denen da oben” kommen und uns sagen wollen, wie wir uns im Straßenverkehr zu verhalten haben, oder uns mit der Anschnallpflicht die Freiheit rauben … und generell Freiheit et cetera.

Geht man nun in sich und versucht reflektiert solche Maßnahmen anzugehen, könnte man erahnen, dass der Gesetzgeber wohl eher darauf erpicht ist, der sich im Straßenverkehr bewegenden Gesellschaft möglichst viele Tote zu verhindern. Blickt man kurz über den Tellerrand, ist es generell ein Anliegen der Legislative, der Bevölkerung Schaden abzuwenden. Zumindest sollte sie das.

Es geht folgend um ein Thema, das sehr viele Menschen in Magdeburg betrifft. Deswegen eine kurze Trigger-Warnung an alle passionierten Autofahrer und den Liebhabern von Gretas-Zöpfe-hängen-aus-dem-Kofferraum-Autokleber: es geht um autofreie Innenstädte.

Man stelle sich eben kurz ein Szenario vor. Man kommt gerade frisch aus der Frisierstube. Es ist früher Nachmittag. Man flaniert entspannt quer über den Hasselbachplatz, hinüber zum Bäcker, besorgt sich ein Stück Erdbeerkuchen, für den Partner darf es die dicke Sahnetorte sein. Nächstes Ziel ist der Wochenmarkt. Der kurze Weg zum Alten Markt wird mit der Tram überwunden, die Einkäufe verschwinden schnell in der Tasche, die Euros wechseln den Besitzer. Auf dem Weg über die Ernst-Reuter-Allee trifft man einen guten Freund, plaudert. Bevor es wieder in die Tram und in ihr zum nahen Park-and-Ride-Platz geht. Ab ins Auto und nach Hause.

Kleiner Sprung: In Deutschland gibt es rund 60.000 Tote durch Feinstaubbelastung. Europaweit sind es derer rund 400.000. Das entspricht der Menge eines jeden einzelnen Magdeburger und jeder Magdeburgerin, inklusive fast der kompletten Einwohnerzahl des Börde-Landkreises. Pro Jahr.

Richtig ist, dass die Fallzahlen seit 1990 stark zurückgegangen sind. Eine überschaubare Menge an Menschen, die vorzeitig wegen Feinstaub aus dem Leben gerissen wurden, ist dies jedoch noch lange nicht.

Ebenfalls zu beachten, und häufig von “Autokritikern” in die Runde geworfen, sei das Märchen, lange Trockenperioden sorgen für höhere Feinstaubbelastungen. In Magdeburg zumindest ist dem nicht so, wie die Volksstimme 2018 berichtet hat. Zumindest nicht im Zusammenhang von den Quellen Bremsbeläge und Autoreifen, deren Abrieb in Massen für eine erhöhte Feinstaubbelastung sorgen.

Die Zahlen der “Feinstaub-Toten” gehen zurück, die Feinstaubwerte steigen jedoch an - nicht zuletzt wegen den von Menschenhand stets trockener werdenden Sommern in und um Magdeburg, weltweit. Festzuhalten gilt, dass immer noch Mütter, Väter, Kinder und Großeltern an Feinstaubbelastung sterben müssen. Auch, weil sie sich das Recht herausgenommen haben in der  Stadt zu wohnen. Oder aber, weil sie es aus beruflichen Gründen müssen. Oder aber, weil sie einen Verwandten pflegen müssen. Die Gründe sind so vielfältig, wie es Fahrzeugmodelle auf dem Markt gibt.

Eine einfache, wie komplexe Frage. Eine Möglichkeit wäre es den Verkehr aus der Innenstadt zu verbannen. Denn: im Zentrum, im Beispiel von Magdeburg, wird nicht nur Gastronomie und Handel geboten. Rund 16.000 Menschen leben im Gebiet der Magdeburger Altstadt, gefühlt so viele Autos durchstreifen das historische Areal zwischen Erich-Weinert-Straße und Universitätsplatz jeden einzelnen Tag - wenn nicht sogar mehr.

Park-and-Ride wäre hierbei eine Alternative. Große Parkplätze, welche Autos von Auswärts Platz bieten und die Pendler zu ihrem gewünschten Arbeitsplatz bringen. Beziehungsweise Auswärtige zum Shopping-Platz der Begierde, beides mit Hilfe von Bus und Bahn. Hierfür benötigt man vor allem freie Fläche, ein wenig Motivation der Stadtratsfraktionen und ein verlässliches und preiswertes Angebot der Öffis. Erstes ist in Massen in Magdeburg vorhanden, über die beiden letzten Voraussetzungen gilt es zu streiten. Was sagt der Magdeburger Stadtrat zum Thema “Autofreie Innenstadt”?

“Grundsätzlich ist zu begrüßen, wenn Maßnahmen ergriffen werden, um die Innenstadt den Straßenverkehr betreffend zu entlasten”, bekräftigt Jenny Schulz, Fraktionsvorsitzende von Die Linke im Magdeburger Stadtrat. So sei eine attraktive Innenstadt durch erhöhte Aufenthaltsqualität zielführend. Autoabgase, Lärm und Schwerlastverkehr seien jedoch hinderlich. Eine der Hauptkritikpunkte sei die unklare Lage, wie die Anwohner verkehrsfreier Innenstädte nach Hause kämen. Jenny Schulz dazu: “[...] sind dabei natürlich auch berechtigte Interessen der Anwohner*innen zu berücksichtigen, zum Beispiel um zu ihren Wohnungen zu gelangen. Die Hauptlast des Verkehrs entsteht unserer Ansicht nach ohnehin durch die Menschen, die aus sehr verschiedenen Gründen in die Innenstadt fahren.”

Eine Stärkung des ÖPNV und des Radverkehrs seien laut Der Linken in Magdeburg das A und O. “Nur ein attraktiver und günstiger ÖPNV kann dauerhaft als Alternative zur Autofahrt in die Innenstadt herhalten – sowohl aus ökologischer als auch aus sozialer Sicht. Die jährlichen Preissteigerungen müssen nicht nur umgehend beendet, sondern das Preisniveau sogar reduziert werden. Viele Menschen können sich eine Monatskarte kaum leisten.” Die vielen Baustellen in Magdeburg würden jedoch eine Attraktivität für den ÖPNV aktuell eher senken, als heben, so Schulz. An Kreuzungen sollte zudem der öffentliche Verkehr grundsätzlich Vorrang haben, um auch zeitlich interessant zu werden. Denn, Schulz weiter: Je attraktiver ÖPNV und Radverkehr in einer Stadt seien, desto eher nutzen die Menschen diesen.

Dies zeigt sich auch an Beispielen anderer Städte in Europa. Pontevedra. 80.000 Einwohner. Gelegen an der stürmischen Atlantik-Küste Spaniens, zwischen der portugiesischen Landesgrenze und dem Pilgerfahrtsort Santiago de Compostela. Seit über 20 Jahren ist die kleine Stadt an der Nordwestküste der iberischen Halbinsel autofrei. Heißt: Keine Fahrbahnmarkierungen im Zentrum, keine Unterschiede zwischen Bürgersteig, Radweg und Fahrbahn der Autos ... und vor allem keine motorisierten Fahrzeuge, wie Thomas Urban von der Süddeutschen Zeitung schreibt. Nur ein paar Autos stünden vereinzelt in der Innenstadt - die der Anwohner sowie des Lieferverkehrs. Grundregel: Fußgänger haben immer Vorfahrt, hierarchisch untergeordnet sind Fahrräder, zuletzt kommen motorisierte Fahrzeuge, die im Zentrum generell auch nur maximal 30 km/h fahren dürfen.

In Pontevedra und seinen Vororten kamen damals auf fast jeden Einwohner ein Fahrzeug. Ein Umdenken fand statt, die Stadt verbannte die Vehikel aus dem Zentrum. Eine der größten Kritikpunkte mutet angesichts der Zahlen wie eine Märchengeschichte an. So befürchten hierzulande viele Geschäftsleute einen Einbruch der Verkaufszahlen durch ausbleibende Kunden. Ein Trugschluss. In die spanische Kleinstadt kamen nach dem Umbruch mehr Kunden und gaben sogar mehr Geld aus. Hierfür benötigte man vor allem viele und kostengünstige Parkplätze außerhalb der Stadt und eine gute und verlässliche Anbindung zu den Öffis, wie bereits oben beschrieben. Diese wurden in Pontevedra errichtet, kostenfreie Stadtbusse bringen die Pendler zum Arbeitsort und wieder zurück, sogar an Leihfahrrädern wurde gedacht und diese installiert. Die Kohlendioxid-Emissionen im Zentrum gingen um 70 Prozent zurück, die Zahl der Unfalltoten wurde beinahe auf null reduziert.

Logisch, Spanien ist nicht Deutschland und Pontevedra ist nicht Magdeburg. Ängste einer Zäsur, hin zu einer verkehrsfreien Innenstadt, sind nachvollziehbar, könnten jedoch mit Zahlen genommen werden.

Linke-Fraktionsvorsitzende Jenny Schulze dazu: “Diese vielen kleinen und großen Maßnahmen würden allerdings einen „Kulturbruch“ in der Verkehrsplanung der Landeshauptstadt darstellen. Aber die Chancen – gerade für die Innenstadt - sind unbestreitbar. Die nicht mehr benötigten Verkehrs- und Parkflächen in der Innenstadt stünden zum Flanieren oder Spazieren zur Verfügung, für Kultur- oder Freizeitangebote. Teile könnten zusätzlich begrünt werden, um gerade in den heißen Sommern den Aufenthalt erträglicher machen. Die Innenstadt würde deutlich an Aufenthaltsqualität gewinnen, ja zum Verweilen einladen. Eine Chance auch für Restaurants, Cafés und Geschäfte.”

Ähnlich und doch sehr unterschiedlich die Meinung der SPD-Fraktion im Magdeburger Stadtrat. SPD-Stadtrat Falko Grube könne sich nicht vorstellen, dass es “zwischen Elbe und Bahnlinie und zwischen Walter-Rathenau-Straße und Erich-Weinert-Straße” eine komplett autofreie Innenstadt geben könnte. Er meint: “Das Abschneiden aller Menschen, die dort leben, arbeiten oder etwas erledigen wollen, von jeglichem Individualverkehr, würde das Funktionieren der Innenstadt komplett umkrempeln. Das betrifft ja nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner, die dort leben, das betrifft auch alle, die Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Hotels, das Theater, die Johanniskirche, öffentliche Einrichtungen wie Rathaus, Landtag, Polizei, Gerichte oder andere Behörden nutzen wollen.” Dafür sollen die Radwege besser ausgebaut und mehr öffentlichen Verkehr angeboten werden. Eine vollständige Verbannung des Autoverkehrs im Magdeburger Zentrum sieht er nicht.

Falko Grubes Vorschlag wäre, “auszuprobieren, weitere Teile des Breiten Weges als Fußgängerzone auszuweisen”. So zum Beispiel der Bereich zwischen Ulrichshaus und Allee-Center, oder dem Bereich zwischen Hasselbachplatz und Keplerstraße. Jedoch immer im Hinterkopf behaltend, wohin der Individualverkehr ausweichen könnte, sollten diese Bereiche gesperrt werden.

Einen ähnlichen Weg wie Pontevedra geht die belgische Hauptstadt Brüssel. Hier sind Autos in der Innenstadt nicht generell tabu, dürfen im Zentrum jedoch nur noch 20 km/h fahren. Ihnen wird auch nichts anderes übrig bleiben, da Fußgänger und Fußgängerinnen sowie Radfahrende sich nun frei über die Straßen bewegen dürfen.

In der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt gibt es einige wenige Flecken, die im weitesten erahnen lassen könnten, wie ein verkehrsfreies Magdeburg aussehen würde. Ein entspanntes Flanieren ist zum Beispiel in der Einsteinstraße am Hasselbachplatz, dem Ulrichplatz oder dem Erhard-Hübener-Platz an der Grünen Zitadelle möglich - einzig übermotivierte, sagen wir eher rücksichtslose Radfahrende, verderben gelegentlich die Laune. Zudem ist die Gesamtfläche dieser verkehrsfreien Gebiete in Magdeburg im Vergleich beinahe lächerlich niedrig.

Madeleine Linke, Fraktionschefin der Grünen im Magdeburger Stadtrat, sieht viele Ecken in der Landeshauptstadt, die bereits autofrei sind, aber auch das Potenzial dazu haben. Allen voran das “Herz von Magdeburg” soll von motorisierten Fahrzeugen befreit werden: auf dem Breiten Weg von der Ernst-Reuter-Allee bis zur Bärstraße. Also diese Teile der Altstadt, wo in diesem Frühjahr das Freiraumlabor hätte stattfinden sollen - verkehrsfreier Raum im Magdeburger Zentrum sollte geschaffen werden, inklusive Veranstaltungen und einem ganzen Haufen Konzepte; mit dem Credo, das Leben in der Innenstadt zu verbessern. Naja, und dann kam Corona …

Für die Grünen im Magdeburger Stadtrat gestaltet sich eine “progressive Mobilitätswende”, eher als Anrennen gegen Windmühlen: “Es braucht noch ein wenig Überzeugungsarbeit, um die diversen Fraktionen von der Lebensqualität von Fahrradstraßen und autofreien Zonen, aber auch beispielsweise einem Shared Space (Fahrzeuge, Radfahrende und zu Fuß gehende teilen sich die Straßen, Anm. d. Red.) zu überzeugen”, erklärt Madeleine Linke. “Darüber hinaus ist auch die Stadtverwaltung nicht wirklich offen für Pilotprojekte und Versuchslabore.”

Sie spricht zudem von mehr Aufenthaltsqualität im Zentrum, durch attraktive Sitzmöglichkeiten, mehr Bäumen und Außengastronomie sowie autofreien Straßen. Außerdem ist die Rede von ein “wenig” Überzeugungsarbeit, die noch im Stadtrat geleistet werden müsse. Letztes klingt stark nach Euphemismus. Leider. Weil: Mehr Grün in der Stadt, eine höhere Aufenthaltsqualität in der City und bessere wirtschaftliche Verhältnisse für die Händler? Eigentlich Ziele, die jeder Magdeburger und jede Magdeburgerin unterschreiben könnten. Doch warum so viel Widerstand gegen solche Maßnahmen, unter anderem in Sozialen Medien?

Magdeburg ist eine Autostadt. Auf jeden zweiten Magdeburger kommt ein zugelassenes Fahrzeug. Das macht rund 115.000 Vehikel, somit etwa 575 Autos, Busse und Motorräder auf einen Quadratkilometer Fläche - und dies in einer Stadt, die eine hervorragende Anbindung zum ÖPNV, haufenweise Studenten, die sich kein Auto leisten können und Minderjährige innehat, die keines fahren dürfen. Die Liebe zum Automobil kennt kaum eine Grenze.

Zudem ist Magdeburg die Pendlerstadt in Sachsen-Anhalt schlechthin: rund 45.000 Menschen kommen zum Arbeiten nach Magdeburg, knapp 27.000 pendeln aus der Stadt heraus. Wie viele sich davon ein Auto teilen, ist nicht bekannt. Ein Blick in die Fahrzeuge genügt, um ansatzweise erahnen zu können, dass es vermutlich nicht viele sein können. Beeindruckende Zahlen. Deutet dies auf eine rückläufige Arbeitslosigkeit hin, aber auch auf fehlende digitale Infrastrukturen.

Deutschland ist ein Autoland. Denn: ohne das Automobil wäre die Republik im Herzen Europas, niemals zu einem der wirtschaftlich stärksten Ländern weltweit mutiert. Das Auto ist deutsche Geschichte, pulsierendes Ökonomie-Wunder und fest in der DNS der Deutschen verankert. Auto bedeutet Freiheit. Eine Freiheit, die allerdings mit vielen negativen Auswüchsen und sehenden Auges erkauft wurde und immer noch wird.

Interessant bei all den Informationen und Fakten sind vor allem zwei Dinge. Zum einen konnte keine der Stadtratsfraktionen, die im Zuge dieser Kolumne geantwortet haben, konkrete Pläne vorlegen, wie man eine verkehrsfreie Innenstadt in Magdeburg umzusetzen weiß. Zum anderen haben alle anderen Stadtratsparteien eher wenig bis gar kein Interesse an dem Thema, wollen sich nicht dazu äußern.

Autofreie Innenstadt. Pro und Contra. Vor- und Nachteile. Konzepte die von scheinbar keinerlei Interesse sind, und Ideen die auf taube Ohren stoßen. Magdeburg ist noch nicht so weit. Gedenken sollte man derweil den zehntausenden Menschen, die jährlich in Deutschland vorzeitig wegen der Feinstaubbelastung sterben müssen - obwohl Konzepte vorliegen, die das zu verhindern wissen.