1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. Auf ihre rechte Brustseite mussten sie das violette P heften

Gerhard Lotsch hat Fakten über polnische Zwangsarbeiter in Stendal zusammengetragen Auf ihre rechte Brustseite mussten sie das violette P heften

Von Reinhard Opitz 08.06.2010, 05:22

Das Thema ausländische Zwangsarbeiter während der Nazizeit in Stendal ist bisher wenig erforscht, aber auch nicht gänzlich vernachlässigt. Gerhard Lotsch, in Stendal geboren, heute in Magdeburg lebend, stieß im Stendaler Stadtarchiv, wo er seit Jahren Familienforschung betreibt, auf Fakten über Hunderte von Zwangsarbeitern polnischer Herkunft.

Stendal. Wie mag es Georg Jaremko seither ergangen sein? Hat er seine deutsche Vaterstadt jemals besucht? Solche Fragen bewegen Gerhard Lotsch. Der 77-jährige Journalist, früher Redaktionsleiter der Volksstimme in Tangerhütte, erforscht seit 1998 intensiv die eigene Familiengeschichte, vor allem die schlesischen Ahnen seiner Frau. Bei diesen Recherchen stieß er im Stendaler Stadtarchiv auf zahlreiche Spuren polnischer Zwangsarbeiter, die das nationalsozialistische Regime nach Stendal verschleppt hatte.

Eine von ihnen war Lucja Jaremko. Die junge Frau, 1924 im damals polnischen Lemberg geboren, war 1942 mit einem Transport aus ihrer Heimatstadt nach Stendal gebracht worden, wo sie am 26. März eintraf und in der Gemüse- und Obstkonservenfabrik der Deutschen Großeinkaufsgesellschaft in der Arneburger Straße arbeiten musste. Am 8. Mai 1945, dem Tag, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, brachte sie im Arbeitslager auf dem Fabrikgelände einen Sohn zur Welt und nannte ihn Georg.

Diese Fakten konnte Lotsch der historischen Einwohner-meldekartei Stendals entnehmen, die ihm das Stadtarchiv zur Verfügung stellte. Danach verliert sich die Spur von Georg Jaremko. Doch er lässt Gerhard Lotsch nicht los. "Konnte er, der heute 65-Jährige, die Schule besuchen, einen Beruf erlernen, eine Familie gründen?", fragt er sich. "Wo und wie mag er seine Kindheit verbracht haben und heute leben? Denn in ihre Heimat Lemberg, polnisch Lwow, ukrainisch Lwiw, konnte seine Mutter mit ihrem Baby nicht zurückkehren. Sie war nach dem Krieg der Sowjetunion zugeschlagen worden."

Im selben Transport von Lemberg nach Stendal war 1942 auch Helena Bulban. Auch sie brachte in der Fremde ein Kind zur Welt, Geburtstag: 15. Februar 1944, Geburtsort: Arbeitslager der Konservenfabrik Stendal. Ob es ein Junge oder ein Mädchen war, konnte Lotsch nicht ermitteln: "Es bekam den fremdartig klingenden Namen Gi-Gi Bulban."

Der Hobbyforscher hat in einem kleinen Band Daten und Fakten von 250 Polen zusammengetragen, die während des Krieges in Stendal arbeiteten und lebten. Ein Exemplar hat er dem Stadtarchiv überlassen, ein zweites dem Stadtmuseum in Breslau, dem zweiten Standort seiner Ahnenforschung – nicht zuletzt in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von ehemaligen Zwangsarbeitern zu hören. "Leider gab es bisher keine Reaktion", bedauert er.

Lotsch schätzt, dass mindestens 400 Polen während des Krieges in Stendal arbeiteten. Darüber hinaus gab ihm die Meldekartei, die er nur zum Teil einsah, Auskunft über zahlreiche Fremdarbeiter aus weiteren 20 Ländern, von Belgien bis Litauen, von Dänemark bis zur Sowjetunion.

Doch er konzentrierte sich auf die Polen. "Denn unsere Forschungsaufenthalte in Breslau und an anderen Orten zur Genealogie unserer Vorfahren in Schlesien brachten enge freundschaftliche Kontakte zu polnischen Bürgern mit sich, die heute im nunmehr polnischen Schlesien leben", sagt er. "Wir haben sie ob ihrer Schlichtheit und Freundlichkeit lieben gelernt."

Neben den größeren Betrieben mussten die Zwangsarbeiter auch bei kleinen Arbeitgebern die deutschen Männer ersetzen, die in den Krieg gezogen waren. So waren in einer Wohnung in der Priesterstraße 18 im Jahr 1941 acht Polen untergebracht, die unter anderem im Gartenbaubetrieb Bollmann im Uppstall, bei den Bauern Riehn und Paucke in der Bismarckstraße, bei Land- und Gastwirt Seehaus im Hoock oder im Tiefbaugeschäft Westphal im Haferbreiter Weg arbeiteten.

Für ihre Unterkunft in der Priesterstraße 18 wurde von der Stadt eigens eine "Hausordnung für die Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums" erstellt, wie Gerhard Lotsch Archivunterlagen entnahm. Sie verhängte ein Ausgehverbot im Sommer von 21 bis 5 Uhr und im Winter von 20 bis 6 Uhr. Bei jedem Verlassen der Unterkunft und bei der Rückkehr mussten sich die Bewohner auf der Polizeiwache melden. Kino, öffentliche Parkanlagen und Gaststätten waren tabu. Und: "Das vorgeschriebene Abzeichen (violettes P) ist mit der jeweiligen Oberbekleidung fest verbunden (allseitig aufgenäht) auf der rechten Brustseite zu tragen."