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E-Sport Zocken auf dem Schreibtischstuhl

Pro-Gamer zocken beim E-Sport mittlerweile um Millionen. Auch der Breitensport wächst: Ein Verein in Magdeburg hat 150 Mitglieder.

17.08.2017, 23:01

Magdeburg/Wolfsburg l Martin Müller ist bereit für den Schritt in die Zukunft. Es ist Mitte Juli, als der Vorsitzende des einzigen E-Sport-Vereins in Sachsen-Anhalt mit sechs weiteren Clubmitgliedern vor einer Villa im Magdeburger Stadtteil Stadtfeld steht. Im ersten Stock des Jugendstil-Baus wollen die Computer- und Videospieler eine neue Heimat finden: Aus der kleinen Wohnung soll im August sowohl das Vereinsheim als auch der Trainingsraum werden. Für Müller und die Magdeburger E-Sportler sind die zwei Zimmer ein Meilenstein: Es ist das erste Zuhause des Clubs. Die Mitglieder sollen hier trainieren, die Gemeinschaft leben. „Das ist unglaublich wichtig für unseren Verein“, sagt Müller. 350 Euro Miete wird das neue Heim kosten. Das ist dank Sponsoren und den Beiträgen der Mitglieder kein Problem. Im Mai des vergangenen Jahres hatten Müller und zehn weitere Spieler den Verein eintragen lassen. Seitdem wächst der Club der virtuellen Sportler rasant: Derzeit zählt er fast 150 Mitglieder.

Deutschlandweit ist die E-Sport-Szene auf Wachstumskurs. Millionen Deutsche spielen ohnehin seit Jahren Computer- und Videospiele. Doch die Zeit, in der die Spieler als Zocker oder Nerds verunglimpft wurden, ist vorbei. Turniere der besten virtuellen Sportler locken inzwischen Tausende Zuschauer in große Arenen. Parallel sind häufig Millionen online dabei, wenn die Teams in virtuellen Fantasie-Welten gegeneinander antreten. Das, was die Massen derart bewegt, heißt E-Sport und ist auf dem Weg zum Massenmarkt. Die Unternehmensberatung Deloitte hat den deutschen Markt jüngst unter die Lupe genommen: Bis 2020 werden sich die Umsätze von 50 auf 130 Millionen Euro erhöhen. Weltweit überschreiten die E-Sportler gerade die Milliardengrenze. Als globaler Leitmarkt gilt Südkorea. Dort hat der E-Sport bereits den Status einer traditionellen Sportart erreicht. Diese Aussicht hat auch unter vielen deutschen Unternehmen den Pioniergeist entfacht: Sponsoren bezahlen viel Geld, um mit ihrem Emblem auf den Trikots der professionellen Spieler zu werben. Hardware-Hersteller hoffen auf mehr Umsatz, wenn die besten E-Sportler mit ihren Produkten spielen.

Benedikt Saltzer geht durch die Fanwelt, ein interaktives Museum des Fußball-Bundesligisten VfL Wolfsburg. Der 25 Jahre alte Saltzer war einer der ersten Pro-Gamer, den der Club für sein E-Sport-Team verpflichtete. Heute hat der blonde, hochgewachsene Mann sein neues Trikot bekommen. Auf der Rückseite steht die Nummer 52. In dem Museum läuft Saltzer mit großen Schritten an den Spielerfotos erfolgreicher Wolfsburger Fußball-Mannschaften vorbei: Aufstiegshelden, Pokalsieger, deutsche Meister. An einer freien Fläche stoppt er. Saltzer streckt seine Arme aus. Hier, sagt er, ist doch noch Platz für uns. Doch bis das Wolfsburger E-Sport-Projekt tatsächlich auf Augenhöhe mit den Fußballern agieren wird, dürfte noch Zeit vergehen.

Besucher können in der Fanwelt dem Leben eines Fußballprofis beim VfL nachspüren. Saltzer gibt mit seinem englischen Kollegen Dave Bytheway heute ein Interview für den Fernsehsender Sport1. E-Sport ist mittlerweile auch für Fernsehsender ein Thema. Während Saltzer wartet, erzählt er über sein Leben als Pro-Gamer. Der junge Mann redet auch über Tradition. Im echten Fußball eher als Plastik-Club mit großem Sponsor im Rücken abgestempelt, haben die Wolfsburger im E-Sport wahrlich Pionier-Geist bewiesen: Als erster deutscher Profi-Fußballclub gründeten die Niedersachsen im Mai 2015 eine Abteilung für den virtuellen Sport. Das Engagement galt international als Vorbild. Mittlerweile sind weltweit gut 60 Fußballvereine im E-Sport aktiv, in Deutschland neben Wolfsburg auch Schalke und Stuttgart.

Die Bundesligisten haben den E-Sport als Marketing-Plattform entdeckt. „Langfristig ist das ein Instrument, um Fans an uns zu binden“, sagt Christopher Schielke, der bei den Wölfen das E-Sport-Projekt koordiniert. Die Rechnung für die Niedersachsen ist einfach: Vor allem junge Menschen verfolgen, wie die Pro-Gamer an der Konsole zocken. Die Zielgruppe soll früh die Marke VfL Wolfsburg kennen und lieben lernen. Der Bundesligist hat deswegen drei der besten Spieler der Fußball-Simulation „Fifa“ unter Vertrag genommen: Neben Saltzer, dem Engländer Bytheway auch Timo Siep, der im Mai bei der „Fifa Ultimate Team Weltmeisterschaft“ in Berlin Zweiter wurde. Die Wölfe schielen dabei auch nach Übersee: Vielen Bundesligisten hoffen in Asien auf zusätzliche Einnahmen durch Sponsoren und Merchandising. Dabei sollen die virtuellen Sportler helfen. Nicht zuletzt bietet das E-Sport-Engagement der Wölfe aber auch dem bestehenden Sponsoren-Umfeld neue Möglichkeiten.

Mehrere Zehntausend Menschen werden allein über die Youtube-, Twitter- und Facebook-Accounts der Spieler erreicht. Aber auch Millionen-Reichweiten haben die E-Sportler des VfL Wolfsburg schon erzielt. Die Macher hinter den Kulissen überlassen dabei nichts dem Zufall: Eine Agentur unterstützt die Spieler beim Training und bei der Vorbereitungen auf die Turniere, bucht Reisen und Hotels. Die Fans sind bei all dem nah dran: Auf der Website und den verschiedenen Kanälen des Clubs werden regelmäßig Lesegeschichten und Videos über die Spieler hochgeladen. Dafür, dass die E-Sportler den Kopf für die Wolfsburger in die Kamera erhalten, werden sie fürstlich entlohnt. Neben einem Grundgehalt im unteren vierstelligen Bereich gibt es Prämien und Preisgelder. Beobachter munkeln, dass sich die Wolfsburger die E-Sport-Arbeit jedes Jahr eine höhere sechsstellige Summe kosten lassen.

Wenn Benedikt Saltzer nicht gerade studiert, lebt er bereits das Leben eines Profi-Sportlers. Er jettet um die Welt, spielt Turniere, sitzt mehrere Stunden am Tag vor dem Rechner und feilt an seinen Fähigkeiten. Saltzer sagt: „Wenn ich nicht gewinne, bin ich enttäuscht.“ Aber ist E-Sport auch tatsächlich ein „richtiger“ Sport? Der Deutsche Olympische Sportbund sagt „nein“ und verweigert den E-Sportlern die Aufnahme in die Organisation. Der Dachverband des deutschen Sports verweist auf seine Aufnahmeordnung. Darin ist von einer „eigenen, sportartbestimmenden motorischen Aktivität“, der „Einhaltung ethischer Werte“ und Verbandsstrukturen die Rede. E-Sport erfüllt diese Voraussetzungen angeblich nicht. Benedikt Saltzer kennt die Diskussion. „E-Sport ist ganz klar ein Sport. Nach Turnieren oder harten Trainigseinheiten bin ich komplett ausgelaugt, der Kopf, die Konzentration ist am Ende. Ich bin extrem erschöpft. Ein E-Sportler braucht eine schnelle Hand-Augen-Koordination, flinke Finger“, erklärt Saltzer.

Politiker auch in Sachsen-Anhalt betonen inzwischen oft und gerne, dass Videospiele im Dienste der gesamtgesellschaftlichen Unterhaltung ausdrücklich gewünscht sind. Aber Games als offiziellen Sport anerkennen? So offensiv äußert sich dann doch kaum einer. Vielleicht hilft der Besuch der deutschen Bundeskanzlerin auf der Gamescom in der nächsten Woche. Für Angela Merkel wird es der erste Auftritt auf der Spielemesse in Köln sein. Martin Müller aus Magdeburg wird auf dem Branchentreffen auch über E-Sport als Breitensport reden. Sicherlich kommt er dann auch auf die Probleme zu sprechen, vor denen sein Verein noch immer steht, weil die Finanzämter ihm die Gemeinnützigkeit absprechen. „Das würde sich nur ändern, wenn E-Sport endlich als Sport anerkannt werden würde“, sagt Müller. Dem E-Sport-Club aus der Landeshauptstadt wird es bis dahin weiter nicht erlaubt sein, Spendenquittungen auszustellen oder an Förderprogrammen teilzunehmen. „Das macht uns das Leben schwer“, bedauert Müller.

Dabei hat auch Sachsen-Anhalt bereits E-Sportler hervorgebracht, die der breiten Masse als Vorbilder dienen könnten. Der 27 Jahre alte Magdeburger Niklas Krellenberg zum Beispiel ist Weltmeister. Im Oktober des vergangenen Jahres fuhr er im Spiel „World Rallye Championship“ als Erster über die virtuelle Ziellinie. In Wales hatte er sich zuvor gegen Tausende Teilnehmer durchgesetzt. Dafür gab‘s ein Auto im Wert von rund 20.000 Euro. Krellenberg sieht seine berufliche Zukunft im E-Sport-Bereich. Als Organisator von Veranstaltungen will er künftig dafür sorgen, dass der virtuelle Sport in seinem Heimat-Bundesland noch mehr Anhänger findet.