Kommunalpolitik ohne Worte Gebärdensprache im Magdeburger Stadtrat
Menschen mit Hörbehinderung sollen in den Sitzungen des Magdeburger Stadtrats nicht von der Information ausgeschlossen sein. Gebärdendolmetscher übersetzen.

Magdeburg - Die Landeshauptstadt möchte im Bereich der Barrierefreiheit nachbessern. Die Stadtratssitzungen werden seit März zum Teil von Gebärdendolmetschern begleitet. So soll Menschen mit Höreinschränkungen ermöglicht werden, die Beratung und Beschlussfassung im Stadtrat zu verfolgen.
Körperliche Präsenz zeigen die Dolmetscher in Magdeburg nicht. Sie sind Mitarbeiter der Firma VerbaVoice, die ihren Sitz in München hat. Im Magdeburger Ratssaal sind Kameras auf die Redner gerichtet, der Film wird übertragen und von einer Gebärdendolmetscherin in Gesten übersetzt. Der übliche Livestream der Stadtratssitzung wird durch eine alternativ wählbare Übertragung mit Gebärdensprachdolmetschen ergänzt. Dazu wird eine Dolmetscherin in den herkömmlichen Videostream eingeblendet, was die barrierefreie Übertragung ermöglicht.
Magdeburger Stadtrat: Vier Dolmetscher sind im Einsatz
Christine Schneid ist Vertriebsmitarbeiterin bei VerbaVoice. Sie organisiert den Einsatz der Gebärdendolmetscher für den Magdeburger Stadtrat. „VerbaVoice gibt es seit über zehn Jahren“, erzählt Christine Schneid. Sie selbst kann Gebärdensprache nur fragmenthaft. Angefangen habe das Unternehmen mit Schriftdolmetschern, die gehörlose Schüler im Alltag begleiteten. Da Jugendliche nicht immer einen Erwachsenen auf Schritt und Tritt an ihrer Seite haben wollen, wurde die Idee eines ortsunabhängigen Internetdienstes zum Gebärdendolmetschen entwickelt.
Das Münchener Büro arbeitet heute nicht nur im Bildungsbereich, sondern betreut verschiedene Landtage und auch das Berliner Abgeordnetenhaus. „Wir haben feste Mitarbeiter und arbeiten zusätzlich weltweit mit Freiberuflern zusammen, die entweder eine Ausbildung als Schriftdolmetscher oder Gebärdensprachdolmetscher absolviert haben“, erzählt Christine Schneid. Und so kann es auch vorkommen, dass eine Dolmetscherin den Magdeburger Stadtrat gerade auf der anderen Seite der Welt für Gehörlose übersetzt.
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Vier Dolmetscher kommen in der Regel beim Magdeburger Stadtrat zum Einsatz. Die Arbeitsbedingungen geben vor, dass Dolmetscher nicht mehr als vier Stunden am Stück dolmetschen sollen. „Man darf die körperliche Anstrengung nicht unterschätzen. Die Belastung für die Arme ist enorm“, erzählt Christine Schneid. Wichtig seien auch ausreichend Pausen. Daher dolmetschen in der Regel zwei Personen parallel.
Von der Verwaltung erhalten die Gebärdendolmetscher ein bis zwei Tage vor der Sitzung die Tagesordnung. „Tauchen während der Vorbereitung unverständliche Worte und Sachverhalte auf, werden sie im Team besprochen oder recherchiert“, erklärt Christine Schneid.
Mit dem Magdeburger Dialekt kommen die Dolmetscher klar, bislang seien Christine Schneid keine Beschwerden zu Ohren gekommen. „Bei Dialekten stößt eine künstliche Intelligenz an ihre Grenzen. Menschen nicht“, betont die Vertriebsmitarbeiterin. Generell hat sie nur lobende Worte für Magdeburg. „Alles läuft sehr gut – die Abläufe, die Organisation, die technische Umsetzung. Da können sich andere ein Beispiel nehmen“, so Christine Schneid.

Für die Magdeburger Stadtratssitzung regt sie aber auch Schriftdolmetscher an – sozusagen einen Untertitel. „Das ist vor allem für Menschen wichtig, die spät ertaubt sind und die Gebärdensprache kaum kennen“, erläutert Christine Schneid. Man könne zwar ausschließlich einen Gebärdensprachdolmetscher einsetzen, sie gibt aber zu bedenken, dass man mit dem Schriftdolmetscher über die Hörbehinderten hinaus auch Ältere oder Migranten erreichen könne.
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Auch Magdeburgs Behindertenbeauftragte Tanja Pasewald befürwortet den zusätzlichen Einsatz von Schriftdolmetschern. „Ich begrüße, dass der Stadtrat eine Begleitung der Stadtratssitzungen durch Gebärdensprachdolmetscher beschlossen hat. Dennoch bedaure ich, dass auf eine barrierefreie Begleitung der Sitzungen durch Gebärdensprachdolmetschende und Schriftdolmetschende im Moment noch verzichtet wird“, erklärt die Tanja Pasewald. Viele Menschen mit Behinderung seien politisch interessiert. Für Menschen mit Beeinträchtigungen hat die Barrierefreiheit eine besondere Bedeutung für die gesellschaftliche Teilhabe. „Sie ermöglichen einen Zugang zum politischen, öffentlichen und kulturellen Leben“, betont Tanja Pasewald.
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Die Stadtverwaltung selbst hatte im Vorfeld für eine Begleitung der Stadtratssitzung ausschließlich durch Schriftdolmetscher plädiert. Begründung: Da in der Regel nur frühzeitig ertaubte Personen der Gebärdensprache mächtig seien, diese decken jedoch nur einen kleinen Teil des Personenkreises ab, der einer barrierefreien Übertragung bedarf. Mit der Begleitung durch Schriftdolmetscher sei es laut Stadtverwaltung zusätzlich auch älteren Menschen, deren Hörvermögen sich stark verringert hat beziehungsweise Menschen, die erst kurzzeitig ertaubt sind, möglich, den Ausführungen zu folgen.
Magdeburger Stadtrat: Barrierefreiheit nicht für jede Debatte
Schlussendlich beschloss der Stadtrat jedoch den alleinigen Einsatz von Gebärdendolmetschern. Aus Kostengründen wird zudem auf eine Begleitung von Gebärdendolmetschern für eine mögliche Fortsetzungssitzung verzichtet. Mit der Begründung, dass in der Regel in den Fortsetzungssitzungen nur Neuanträge behandelt werden und keine Tagesordnungspunkte, die auf ein großes öffentliches Interesse stoßen.
Ob der Einsatz von Gebärdendolmetschern 2024 fortgesetzt wird, soll Ende des Jahres evaluiert werden.
Angestoßen hatte die Diskussion um eine barrierefreie Übertragung der Stadtratssitzung die CDU-Fraktion im Frühjahr 2022.
Für die Übertragung der Stadtratssitzungen hat die Stadt einen Youtube-Kanal erstellt. In der Regel haben die Videos 1000 bis 2000 Aufrufe. Die drei barrierefreien Übertragungen hatten 87 bis 200 Aufrufe.
40.380 Euro wurden für die Übertragung der Stadtratsitzung mit einem Gebärdendolmetscher in den Haushalt 2023 eingestellt.
Gebärdensprache in Deutschland anerkannt
Gebärdensprache ist zwar über Jahrhunderte hinweg entstanden, aber erst seit 2002 in Deutschland als eigene Sprache anerkannt.
Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist eine visuelle, eigenständige Sprache mit einer komplexen Grammatik, die ganz anderen Regeln folgt als die deutsche Laut- und Schriftsprache. Zum Beispiel gibt es in der DGS keine Zeitformen des Verbs, dies kann nur mit Beschreibungen wie „morgen“ oder „gestern“ ausgedrückt werden.
Die DGS ist eine innerhalb der deutschen Gehörlosengemeinschaft gewachsene Sprache. Sie ist in ihrem Vokabular nicht bundesweit einheitlich, sondern verfügt über etliche Dialekte, vergleichbar mit der Deutschen Lautsprache (in Bayern spricht man beispielsweise anders als in Nordrhein-Westfalen und gebärdet auch anders).
Im Grunde ist Gebärdensprache nicht anders als jede andere Sprache. Von daher braucht man auch je nach Talent unterschiedlich lange, um sie zu lernen.