Jahrestag des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt Als um 19.02 Uhr die Glocken läuten, steht Magdeburg steht zusammen
Tausende haben sich am Jahrestag des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt an Gedenkveranstaltungen in der Stadt beteiligt. Kanzler Friedrich Merz verspricht Beistand - und äußert Verständnis auch für Wut.

Magdeburg - Als am Sonnabend um 19.02 Uhr die Glocken zu läuten beginnen, schließt sich für Magdeburg auch ein Kreis. Ein Jahr lang hat die Stadt versucht, mit dem Trauma des Anschlags auf ihren Weihnachtsmarkt umzugehen, Antworten zu finden, sich wieder aufzurichten.
Jetzt, exakt ein Jahr nachdem der Attentäter mit einem Mietwagen auf den Markt raste, sechs Menschen aus dem Leben riss und mehr als 300 teils lebensbedrohlich verletzte, steht die Stadt wieder – zusammen. Tausendfach versammelt zu einer Lichterkette mit Kanzler, Ministerpräsident und Oberbürgermeisterin gedenkt sie rund um den geschlossenen Markt ihrer Opfer.
Opfer stehen im Mittelpunkt von zentraler Gedenkstunde der Stadt
Schon den ganzen Tag über haben zuvor Veranstaltungen an den Anschlag erinnert, darunter ein Ökumenischer Gottesdienst, Kundgebungen, Mahnwachen. Nachbarstädte wie Wanzleben und Wernigerode haben sich am Gedenken beteiligt.
Wie beim Gottesdienst am Vormittag stehen auch bei der zentralen Gedenkstunde der Stadt am Abend in der Johanniskirche die Opfer im Mittelpunkt. Stille herrscht hier wie auf der Straße, als die Namen der Opfer verlesen werden – fünf Frauen und ein neunjähriger Junge. Per Bildschirm wird die Feierstunde live nach draußen übertragen.
Tochter spricht bei Gedenkfeier über den Verlust ihrer Mutter am Anschlagsabend
„Heute vor einem Jahr geschah etwas unvorstellbar Grausames“, sagt stellvertretend für viele Susanne Staab, die ihre Mutter Rita Staab beim Anschlag verlor. Ihr wolle sie heute eine Stimme geben. Deshalb stehe sie hier. „Auch wenn mir das schwerfällt.“ „Sie war der freundlichste, sympathischste Mensch, den ich je gekannt habe, sie hatte für jeden ein herzliches Lächeln übrig“, sagt Staab. „Vor allem aber war sie meine Mama, eine liebe Oma. Für ihre Kinder und Enkelkinder hat sie immer alles getan.“

Genau das sei auch ihr Anliegen gewesen, als sie mit ihren Kindern und Enkeln am 20. Dezember 2024 auf den Weihnachtsmarkt ging. „Doch dann kam dieser eine Augenblick, der unsere Mama und Oma auf grauenvolle Weise aus dem Leben riss. Bis heute bleibt das unbegreifbar.“ Auf dem Wunschzettel ihrer Kinder stehe in diesem Jahr nur eines, sagt Susanne Staab dann unter Tränen: „Wir möchten unsere Oma Rita wiederhaben.“ Die Menschen in der Kirche applaudieren.
Angehörige bittet Politik, die Opfer des Weihnachtsmarktanschlags nicht allein zu lasen
An die Politik habe sie vor allem eine Bitte: „Dass wir Opfer nicht allein gelassen werden.“ Andere Betroffene kritisieren später in der Kirche, dass Hilfsangebote sie lange nur per Mundpropaganda erreicht hätten.
Die Angesprochenen sagen ihren Beistand zu: „Seit einem Jahr ist für viele in Magdeburg nichts mehr wie es war“, sagt Oberbürgermeisterin Simone Borris (parteilos). An die Angehörigen gerichtet erklärt sie: „Sie tragen Lasten, die man nicht ablegen kann.“ Die Betroffenen seien aber nicht allein: „Wir werden alles tun, um Ihnen zur Seite zu stehen.“
Ministerpräsident: Der 20. Dezember hat „einen Schatten auf unser Land gelegt“
„Der 20. Dezember hat einen Schatten gelegt auf unsere Stadt, auf unser ganzes Land“, sagt auch Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). „Aber er konnte uns nicht brechen.“ Haseloff nutzt seine Ansprache zugleich für einen Appell: „Wir haben Verletzlichkeit erfahren, wir dürfen aber nicht Verletzte bleiben. „Wir kapitulieren nicht vor dem Terror“. Darum sei es ein wichtiges Zeichen, dass der Weihnachtsmarkt nur wenige Meter von der Kirche entfernt auch in diesem Jahr stattfindet.

„Es gibt Tage, an denen will die Dunkelheit nicht weichen, an denen ist die Trauer so groß, dass sie fast allen Raum einnimmt“, sagt Kanzler Friedrich Merz (CDU). Viele Menschen trügen bis heute und insbesondere an diesem Tag schwer an der Trauer. Die Bundesregierung stehe an ihrer Seite und danke allen Helfern, die an jenem Abend zu Helden geworden seien. Merz zeigt zugleich Verständnis für die Gefühle der Angehörigen: „Auch Wut und Zorn dürfen sein im Auge von grausamen Verbrechen.“
Kanzler Friedrich Merz verspricht Beistand und äußert Verständnis auch für Wut
Deutschland sei ein Land, „das nichts höher stellt als den Menschen, jeden Einzelnen, als das Leben eines Menschen“, betont der Kanzler. „Ich wünsche, dass jeder von uns und Ihnen Trost findet – und dass wir zugleich als Land fortführen zu sein, was wir sind“, uns mit Anteilnahme beschenken, wo Unrecht geschieht.

Vor allem Kirchenvertreter rufen am Gedenktag dazu auf, unabhängig von Hintergrund und Herkunft, zusammenzustehen. Der katholische Bischof Gerhard Feige zitiert im Gottesdienst aus dem Gleichnis des barmherzigen Samariters, der einem Versehrten nicht aus Sorge um das eigene Wohl, sondern aus Mitleid geholfen habe – so wie unzählige Helfer am Anschlagsabend.
Kirche ruft zu Zusammenhalt auf, Tausende bilden Lichterkette um Weihnachtsmarkt
In der Feierstunde der Stadt drücken Vertreter von Synagogengemeinde und Islamischer Gemeinde ihre Anteilnahme aus. Auch vielen auf der Straße geht es um Zusammenhalt: „Es ist auch ein Zeichen gegen Spaltung“, sagt etwa Besucher Ingo Prestel zu den Beweggründen für sein Kommen.
Aus der Ferne in Kaiserslautern drücken auch Spieler und Trainer des 1. FC Magdeburg ihre Anteilnahme aus. Man sei „froh, dass wir allen Trauernden in Magdeburg heute etwas zurückgeben können“, sagt Trainer Petrik Sander nach einem hart erkämpften Erfolg im Auswärtsspiel.
Zwar gibt es auch Misstöne. Die Ankunft von Merz, Haseloff und Borris wird von einzelnen, offenbar orchestrierten Schmährufen begleitet. Das Viertel um den Weihnachtsmarkt ist abgesperrt, wird unter anderem von Scharfschützen abgesichert, ein Hubschrauber kreist. Am Ende aber bleibt es friedlich.